Strahlenkranz der Pandemie
Es liegt eine außerordentliche, eine evolutionäre Chance in dem Geschehen, das die Menschheit überraschte wie ein Dieb in der Nacht. Ohne irgendetwas an persönlichen Schicksalen verharmlosen zu wollen, müssen wir die weltweiten viralen Prozesse in diesen Tagen als einen dramatischen Weckruf der Evolution sehen. Wir erhalten das Angebot zu einem Crashkurs in der überlebensnotwendigen Umkehr und Neuausrichtung.
Alles deutet jedoch vorerst darauf hin, dass wenn die Infektionswellen abflachen und schließlich versanden, die Wirtschafts- und Mobilitätsturbinen wieder hochgefahren werden wie bisher. China macht das gerade vor, um den Wachstumseinbruch in Grenzen zu halten. Die Regierung Trump kündigt es unabhängig von der Corona-Entwicklung bereits für die nahe Zukunft an. Und leider ist unserer Politik letztendlich nichts anderes zuzutrauen. Das Krisenmanagement scheint zwar angemessen. Doch zugleich zeigt sich, wie wohl noch nie, diese erbärmliche Visionslosigkeit so erschreckend deutlich. Unendliche Milliarden, die nicht da waren, um ernsthaft dem Klimawandel entgegenzustehen, die Arten zu schützen, den erniedrigten geflüchteten Menschen, etwa auf den griechischen Inseln, zu helfen, werden nun aus dem Hut gezaubert, damit alles so bleibt, wie es ist bzw. wieder so wird, wie es war. Und so wird der Hebel sich umlegen von „Besonnenheit“ und „Zeit zur Reflexion“ hin zum „Volle Kraft voraus“ – Kurs Eisberg.
Hören wir Aufrufe zum wahrhaften Innehalten? Zur grundlegenden Reflexion unseres personalen und des kulturellen Selbst?
Ablenkung lautet vielmehr die vorherrschende Botschaft. Ratschläge „Wie man online die Langeweile in der Selbstisolation überwinden kann“ verbreiten sich schneller als Covid-19. Medien verändern ihre Angebote, damit Menschen das Geschehen bzw. das Nichtgeschehen „aushalten“ können und keinem „Lagerkoller“ oder einer „persönlichen Krise“ erliegen.
Wir, deine medialen Fürsorger, geben dir eine Ersatzstruktur, wenn die gewohnte Alltagsstruktur für eine gewisse bzw. ungewisse Zeit weggebrochen ist.
Tauchen die Menschen vor einer einerseits so erschreckenden und andererseits so großartigen Herausforderung aus Angst oder Ignoranz weg, wird es auch mit ihnen, und nicht nur dem „System“, nach der Krise so weitergehen wie bisher.
Gleichwohl mag eine Erinnerung bei den Generationen bleiben, die das Momentum durchlebten. Unbewusst vielleicht, ruht dann ein neuer Vergleichsmaßstab in uns. Wie es war, als Stille durch die Straßen der Städte flanierte, der Himmel rein war, ohne Kondensstreifen der Flieger und Shopping als Sehnsuchtsziel und Zeitgestaltung das Repertoire der alltäglichen Möglichkeiten verlassen hatte.
Und dann gibt es da ja noch den anderen Blick. Er wartet nicht lediglich auf das Ende einer lästigen Störung, sondern kommt aus der Frage, was wir von uns selbst erwarten sollten, um den Ernst der Lage, der ja weit über Corona hinausweist, aufrecht und in Würde anzunehmen und zu leben.
Danach wäre nun die Zeit vorhanden, in der geschenkten Begrenzung des nach Außen Strömens die Schönheit des Lebens in unmittelbarer Präsenz wahrzunehmen. Das Erspüren dessen, was jenseits des Zeitvertreibs, der bloßen Ablenkung und der besinnungslosen Zerstreuung liegt. Weit öffnet sich dann mit dem Wegfall der äußeren Kontaktwelten der Raum zu unseren Innenwelten, in denen es viel zu erkunden und zu entdecken gibt. Gewiss, da warten nicht nur Rosenblätter, sondern auch manche Dornen. Aber auch sie brauchen meine Zuwendung auf dem Weg zu mir selbst und den alles entscheidenden Fragen:
- Wo will ich hin in meinem Leben?
- Was ist das wahrhaft Bedeutende, was verdient meine Zu-Wendung?
- In welche Gesellschaft will ich mich einbringen?
- Was sind meine Träume, was meine tiefsten Sehnsüchte?
- Wie kann ich mich wieder mit dem Strom des Lebens, nicht nur des menschlichen Lebens, verbinden und in solchem Sinne vielleicht wirklich neu Mensch werden?
- Wenn ich in zehn Jahren zurückblicke auf die erste Jahreshälfte 2020 – was wünsche ich mir dann aus dieser Perspektive an Konsequenzen?
- Und was bin ich bereit, jetzt dafür loszulassen und an Neuem zu investieren?
Dieser historische Moment lädt ein für solche inneren Entdeckungsreisen. Zweifellos sind sie ein Wagnis und zugleich ein spirituelles Abenteuer. Aber billiger ist die neue Welt nicht zu haben. Bestehen wir aber dieses Abenteuer, kann aus Corona, dessen Ursprungsbedeutung Strahlenkranz meint, Licht geboren werden. Es durchbricht jede Dunkelheit. Es heilt und heiligt. Menschen, die das verstanden und so voran gingen, nicht selten unter großen persönlichen Opfern, zeichnete man in vergangenen Tagen mit einer Corona, einem Heiligenschein. In ihnen hatte sich durch radikale Umkehr das Licht der Erkenntnis, das Licht der Bescheidenheit und das Licht tätiger Liebe durchgesetzt und ausgebreitet. Die Wirkung ging weit über sie hinaus. Manchmal reicht sie bis in die Gegenwart.
Vielleicht mag auf diesem Weg, dieser Heldenreise, die alte Nomadenweisheit helfen, dass vor dem Brunnen die Wüste liegt. Oder, wie Johannes Don Bosco (1815-1888), Begründer des Salesianerordens, es formulierte:
„Denke daran, bevor du ins gelobte Land einziehst,
musst du das rote Meer und die Wüste durchqueren.“
Und was sagt der überzeitliche Blick, der über die Welt des Werdens und des Vergehens streicht?
„Die Folianten vergilben,
der Städte gelehrter Glanz erbleicht,
aber das Buch der Natur
erhält jedes Jahr eine neue Auflage.“
(Hans Christian Andersen)
Das rechte Maß und die Liebe
Man kann den Zustand von Mensch und Erde in dieser Epoche durchaus umschreiben als: Verlust von Maß und Mitte. Unmäßigkeit nährt die Wurzelkraft des Kapitalismus.
Grenzen zu verletzen, scheint dem Wesen des Menschen seit jeher beigegeben. Deshalb taucht die Suche nach dem rechten Maß auch in der Lehre der kardinalen Tugenden als die vierte und letzte auf. Für unsere Zeit, in der sich in allen Lebensbereichen nun die Folgen angestauter Maßlosigkeit drastisch zeigen, hat sie entsprechend eine alles überragende Bedeutung.
Die Schöpfungswirklichkeit verfügt in ihrem Grundsatz über das angemessene Maß in allen Begebenheiten und Wesenheiten. Symbiotisch ruhen die Lebensprozesse in sich, entwickeln sich im Ausgleich von Geben und Nehmen. Das Wirken des Menschen mit dem Ruf nach Immer Mehr erst haben das Sein und Werden in ein Ungleichgewicht gezogen.
Zumindest in religiösen Zusammenhängen und den entsprechenden Bezugnahmen dient Maß als Synonym für Mäßigung. Und diese wiederum trägt den Beiklang des Verneinenden. Schränke dich ein, verzichte, gib dich nicht deinen Gelüsten hin. Doch das rechte Maß zu finden, hat wenig mit einer blassgesichtigen Kultur des sich Versagens zu tun. Es bringt vielmehr all das zum Leuchten, welchem im Überfluss, genau wie im Geiz, eigentlich keinerlei Wert mehr zukommt. Es bewahrt die Wertschätzung und die Freude an und über etwas, beschert ihm die Aufmerksamkeit für sein Eigensein. Kinder, die an ihren Festtagen überschüttet werden mit Dingen und Events, die man dann auch noch Geschenke nennt, können eine Wertschätzung des Besonderen genauso wenig entwickeln wie eine Kultur, in der das Haben den wesentlichen Existenz- und Identifikationsgrundsatz darstellt.
Das rechte Maß zielt auf Überschaubarkeit. Es hält in der Handlungsfähigkeit. Wo es nimmt, gleicht es auch aus. Diese Tugend ist somit eine Ordnungskraft, unabdingbar für des Menschen Weg zu der ihm möglichen Vollgestalt. Für Hildegard von Bingen war sie die „Mutter aller Tugenden“. Dies gilt für jeden Einzelnen von uns und gleichermaßen für Kultur und Menschheit an sich.
Das Lebensparadigma des Albert Schweitzer, dass wir Leben sind, das leben will, inmitten von Leben, das gleichfalls leben will, bringt das Verständnis des rechten Maßes auf den Punkt und in die damit gegebene Anforderung.
Zum Maß gehört das Abstand nehmen vom Sog der Dinge, um ein freies Erkennen und tieferes Verstehen zu ermöglichen. Der Abstand rückt Werte und entsprechende Orientierungen aus der Vogelperspektive zurecht. Er bewahrt vor einer Entwurzelung des Selbst, indem er es wieder zu sich und seiner Mitte führt. Und er entkleidet damit die verführerischen Ding- und Glitzerwelten als fragile Fassaden, hinter denen das Nichts bzw. die Leere zuhause sind.
Der Anspruch eines Seins im rechten Maß setzt innere Klarheit voraus, die allerdings immer wieder erkämpft werden will in der Abwehr bzw. Überwindung dessen, was wir Acedia nennen; gemeint ist damit jene Trägheit des Geistes, in welcher der Mensch sich von Dingen und Bedürfnissen treiben lässt und sich seine größten Möglichkeiten fahrlässig versagt. Sie galt einmal als die siebte und letzte der sogenannten Todsünden. In ihren langfristigen Wirkungen ist sie die Schrecklichste.
Als einen beweglichen Punkt zwischen Übermaß und Mangel läßt sich das rechte Maß umschreiben. Es liegt wohl nie genau in der Mitte zwischen Beiden, sondern wird von den Anforderungen der jeweiligen Situation bestimmt. So betont Thomas von Aquin, dass etwa das rechte Maß für die Tapferkeit näher an der Tollkühnheit als an der Feigheit liegen sollte. Wir sind also aufgerufen, Maß nicht als ein billiges Mittelmaß fehl zu verstehen, das uns von Entscheidungen in Klarheit fernhält.
Was heißt das nun in der Gegenwart und nahen Zukunft, wenn eines Tages die pandemische Ruhe wieder dem Alltag weicht?
Es steht zu vermuten, dass oberstes Ziel von herrschender Politik, Ökonomie und Finanzsystem dann selbstredend die Rettung der alten Strukturen bleibt, die ja auch ihre materiellen und ideellen Privilegien sichern. So wie diesbezüglich Illusionen hinsichtlich einer nun heilsamen Zuwendung zum rechten Maß fehl am Platze wären, sind sie es genauso, was die blinde Genussorientierung so unendlich vieler Menschen zwischen Kreuzfahrt, Billigflug, Shopping als Lebenssinn und verzehrendem Missbrauch der Tierwelt anbelangt.
Also Resignation? Mitnichten! Aber wieder einmal geht es um die Besinnung auf das Eigene, den eigenen konsequenten Weg und das Eigenvertrauen. Nur das steht in der eigenen Verfügung.
Und es bleibt die Erinnerung daran, dass es etwas gibt, dem wir uns in diesem Bemühen um das rechte Maß und eine entsprechende Selbstachtung in völliger Maßlosigkeit hingeben können: Die Liebe zum Leben und das Hören ihrer Stimme in jeder Situation.
In der Liebe zu bleiben,
bedeutet Einlaß zu finden
in den Bezirk,
wo alle Dinge eins sind.
(Meister Eckhart)
Prof. Dr. Claus Eurich, i.R.