Verena Wolf | Kulturzentrum Waitzinger Keller

Die Fotos sind im Frühjahr 2020 im Kulturzentrum Waitzinger Keller in Miesbach entstanden. Die letzte Kulturveranstaltung fand am 12. März 2020 statt. Seitdem herrscht Stillstand. Max Kalup hat die Szenen nachts oder am frühen Morgen bei spärlichem Lichteinfall eingefangen.

Unabhängig davon hat Verena Wolf im Juni 2020 einen Spaziergang durch das leere Haus unternommen und ihre Gedanken dazu niedergeschrieben.

  • Max Kalup, stellvertretender Kulturamtsleiter und Fotograf, 30 Jahre>
  • Verena Wolf, Buchautorin, Verfasserin der regelmäßig erscheinenden Miesbacher Marktgeschichten, Stadtführerin, 62 Jahre

Das Haus träumt

Wer dieser Tage aufmerksamen Sinnes am Waitzinger Keller vorbeikommt, kommt nicht umhin, die Wunden zu bemerken, die Corona dem Fixpunkt des kulturellen Lebens in Miesbach geschlagen hat. Eine unbestimmte Aura der Einsamkeit umgibt das ganze Gebäude. Zwar hängen Plakate aus, aber sie, die sonst als frohe Vorboten von Veranstaltungen künden, zu Reisen einladen, uns zu Events rufen, haben ihre frische Leuchtkraft verloren. „Anatevka“, das berührende Erfolgsmusical um Milchmann Tevje und seine Töchter, dessen Premiere am FLTB vom 14. März auf den November verschoben wurde, oder„Forever Queen for ever“ (geplante Aufführung am 20. 10.) wirken, sagen wir es ruhig, wirken ein wenig müde…

Wer genau hinsieht, erkennt die Zeichen der Zeit an den Details. Die Fahrradständer vor dem Haus: leer. Die neuen Bänke auf dem Rasen: leer. Die sonst so begehrten Parkplätze direkt vor dem Haus: leer. Das Zimmer von Isabella Krobisch: still und leer…

Doch da – die Tür zur Tourist-Info steht offen! Drinnen, das kann ich von außen sehen, leuchten Lampen. Ich trete ein und atme auf. Hier ist alles „wie immer“ und das ist gut so! Die Damen sind gut gelaunt, topp informiert und freundlich. Ihr Lächeln lässt mich das Bahnhofs-Feeling sofort vergessen, das die Corona-lässt-grüßen-Plexiglasscheiben über dem Tresen kurz aufflackern ließ.

Ich habe einen Termin mit Max Kalup. Man weiß natürlich Bescheid. Und so werde ich hereingebeten, darf durch die Tourist-Info gehen, durchschreite also das Allerheiligste – ein Meer an Infobroschüren, Ablagekörbchen, Plakaten, Zeitschriften, die alle von den 1000 lieblichen Plätzen im Oberland künden –, und finde mich im langen Verbindungsgang wieder, der hinter den Kulissen das ganze Haus von Nord nach Süd durchzieht.

Hier überfällt mich geradezu das Gefühl, einen Stromausfall oder sonstigen Ausnahmezustand zu erleben: Da ist nur Stille, verstärkt durch schummriges, grünliches Licht, das die Notausgangsleuchtkasten über den Türen in den Gang sickern lassen. Es ist so still, dass die eigenen, vorsichtig in den Gang gesetzten Schritte wie in einem Gewölbe widerhallen. Selbst das Klopfen an der Bürotür scheint störend zu wirken. Doch da ist schon Max Kalup. Dynamisch wie immer, lächelnd, aufmerksam und zugewandt. Er will nur schnell noch eine angefangene Arbeit beenden und so starte ich alleine ins coronastille Haus.

Auf Tauchstation

Das Foyer des Waitzinger Kellers ist eine Halle von angenehmer Größe und Höhe, geschaffen fürs Zusammenkommen. Hier – wo sich sonst „tout Miesbach“ trifft, wo kleine Gruppen angeregt plaudern, ehe die Damen und Herren des Publikums in schöner Garderobe und voller Vorfreude hinauf schreiten zum Saal, wären Dunkel und Stille geradezu drückend, wäre da nicht ein scharfer, äußerst durchdringender Pfeifton. Irritiert frage ich mich, ob ich etwa ungeschickt eine Lichtschranke durchbrochen habe, als auch schon ein Techniker herbei stürzt. Ein Defekt. „Als würde das Haus auf sein Unbehagen aufmerksam machen“, denke ich. Solche etwas surrealen, abgründigen Gedanken bekommt man schnell in diesem Haus, das daliegt wie die alte Gorch Fock am Anker vor Stralsund. Ja, und als wäre ich ausgesetzt im Bauch eines verlassenen Schiffes, so werde ich nun neugierig. Neugierig auf die Erkundung des Waitzinger Kellers in Coronazeiten. Etwas wackelig, etwas neben der Realität und irgendwie illegal unterwegs werde ich mir dabei vorkommen. Und doch werde ich genau so die Realität dieses Gebäudes erfahren und werde seinem wahren Ich näher kommen auf den Pfaden, die ich beschreiten werde… Leere, Gänge, Säule, Räume, Treppenhäuser…

 

((Ü)) Mehr als Stillstand

So wie das Haus still steht, ist auch Isabella Krobisch, das immer rührige Herz und Hirn der Miesbacher Kultur, zum Stillhalten gezwungen. Was sie empfindet, sagt sie im Interview: „Nie hätte ich es mir (alp-)träumen lassen, dass der Waitzinger Keller auf diese Weise zum Stillstand kommt. Als der Spielbetrieb Anfang 2019 wegen der ungeheuren Schneemassen kurzzeitig zum Erliegen kam, war die Bedrohung sichtbar. Das Virus hingegen ist rätselhaft und unbeeinflussbar. Es erfordert Demut, Rückzug, Ausharren und Hoffen. Das Haus und die Mitarbeiter sind unversehrt, wir könnten stundenlang im Saal sitzen und würden keine Bedrohung erfahren. Aber die Künstler und das Publikum fehlen! Und zwar auf unbestimmte Zeit. Wir könnten die Türen noch so weit öffnen, niemand darf eintreten. Was für eine absurde Situation! Wir leben von der Gastfreundschaft und müssen uns nun vom Publikum abschotten. Und jede Woche wächst die Liste mit den Absagen und Verschiebeterminen. Wir, die wir so stolz waren, Künstlern wie Kunden den perfekten Auftritt zu ermöglichen, stehen am Fenster und blicken ratlos in eine unnennbare Ferne. Meist blieben die Blicke am zarten Grün der Bäume vor unserem Haus hängen. Dass zeitgleich die Ahornbäume auf der Ostseite und die altehrwürdigen Kastanienbäume im Waitzinger Park den Abholzungsmaßnahmen zum Opfer fielen, hat mich tief getroffen. Es sind große Verluste für diejenigen, denen die Natur Inspiration ist und Zuspruch bietet.“

Hinter den Kulissen

Ich lasse Isabella Krobisch mit ihren Gedanken alleine und steige ins Untergeschoss. Hier sind die Technikräume und in ihnen stoße ich auf die Spuren der sonst so vertrauten emsigen Regsamkeit des Waitzinger Kellers, die sich im steten Kommen und Gehen, dem Knarzen der Walkie-Talkies, der Dynamik des zuliefernden Lastenverkehrs, der hin und her eilenden Angestellten und der allgegenwärtigen Chefin, in Gruppen und Trupps von Übenden, Lernenden, Besuchenden, Künstlern, Kunstschaffenden, Journalisten, Stadträte… abbildet. Jetzt nichts mehr. Stattdessen Kabel, Generatoren und Leitern, die man braucht, wenn es gilt, eine Ausstellung einzurichten, Rahmen aufzuhängen, Leisten neu zu ziehen, Scheinwerfer neu zu positionieren oder auch nur Leuchtmittel in großer Höhe zu wechseln. Hier im Bauch des Waitzinger Kellers stehen in Reih und Glied und äußerst aufgeräumt die Regale mit all dem Werkzeug und Equipment, die zum Schauspiel-Betrieb gehören. In der Holzwerkstatt sind Späne die einzigen Erinnerungen an intensive Arbeiten für Kulissen und Bühne…Ich frage mich, ob es schon in den Werkräumen des römischen Kolosseums so ausgesehen haben mag, durch das stets und ständig die Geräusche eines schaurigen Unterhaltsspektakels hallten: das stetige Schreien, Brüllen und Schnaufen von Tieren und Menschen, das beängstigende Rattern und Knattern der hölzernen Käfige, das harte Flattern der großen Sonnensegel und dann – bei den Aufführungen selbst – die lärmende Anspannung einer vieltausendköpfigen Menschenmenge, das Geschmetter der Trompeten zur triumphal inszenierten Ankunft des Imperators und schließlich, zuletzt, die ohrenbetäubende Stille vor dem Beginn des Gemetzels… Das alles ist, gottlob, längst vergangen, überholt und glücklich vorbei… Wahrscheinlicher ist es natürlich, dass die Werkräume des Waitzinger Kellers denen im mittelalterlichen Globe Theater Londons ähneln, jenem Ur-Theaterbau, in dem, häufig unter den scharfen Augen von König Elisabeth I., die meisten Werke William Shakespeares uraufgeführt wurden.

 

Mit Max Kalup auf Reisen

Max Kalup findet mich und reißt mich aus den durch Raum und Zeit schweifenden Betrachtungen… Er lotst mich im Untergeschoss über den tiefsten Gang des Hauses auf Gewölbeebene hinüber auf die Südseite. Hier residiert die Volkshochschule. Wir tappen leise durchs Treppenhaus, vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug, denn wir stören einen Kurs im großen Vortragraum, linsen dann in den Wellness- und Fitnessraum und haben Zeit, uns im kleinen Seminar-Raum umzusehen. Sehr schön ist er mit einem Spruch an der Wand und den praktischen Bänken … So intensiv ist die Gesprächsatmosphäre hier, dass auch wir ins Plaudern kommen.

Max Kalup, der viel beschäftigte Stellvertreter von Isabella Krobisch, hängt noch schnell ein Bild gerade, dann erzählt er seinen Werdegang: Angefangen hat er im Waitzinger Keller als „Mädchen für alles“. Er hat Kabel getragen, Türen aufgesperrt, Löcher gebohrt, Parkett gepflegt, im Catering ausgeholfen, Tickets verkauft und Künstler betreut. Das alles nebenbei und zusätzlich zur Lehre als Automobilkaufmann. Dabei hatte er sich mit dem Kultur-Virus schon infiziert, hatte er schon Feuer gefangen für dieses Haus mit seinem Eigenleben. Eine Bewerbung an den damaligen Kultur-Chef Martin Fischhaber war da schnell geschrieben. Noch schneller ging die Einstellung und voilà nach 12 Jahren im Dienst von Stadt und Haus ist Max Kalup Masterstudent und das Thema seiner Arbeit „Veränderung des Marketings durch digitale Medien“ hat sogar Matthias Lilienthal, den Intendanten der Münchner Kammerspiele auf den jungen Mann aus Miesbach aufmerksam werden lassen. Kein Wunder, dass Max Kalup von sich selbst sagt: „Ja, so bin ich relativ erfolgreich und ziemlich glücklich.“

Wo das Herz langsamer schlägt

Nach einem kurzen Durchqueren des Foyers Ost, ist es endlich so weit: Ich betrete alleine den Waitzinger Keller-Saal. Dort, wo sonst das Publikum vor einer Aufführung unruhig mit den Füßen scharrt, wo das Stimmen der Instrumente schräg aus dem Orchestergraben hervor klingt oder noch schnell Blumen platziert werden, ist umgeräumt: In der Mitte entstand aus Tischen und wenigen Stühlen ein U, hier tagt einmal im Monat der Stadtrat. Ansonsten ist im Saal die Luft raus, das Licht aus, kein Spot leuchtet, nichts rührt und regt sich. Langsam gleitet die Szene ins Surreale. Steckt da nicht das Mikrophon seine dürren Arme wie hilfesuchend nach mir aus? Und was macht die einsame Alu-Leiter auf der Bühne? Ist sie der Star eines nächtlichen Schauspiels, das die Dinge vor den leeren Stuhlreihen aufführen? Ich schüttele die kafkaeske Szene aus meinem Kopf und mache, was ich klammheimlich schon immer einmal machen wollte. Ich gehe durch den hellen, weiten Saal, ganz langsam, so als würde alle Pracht nur mir alleine gehören, und erlebe Gänsehaut- und Prinzessinnenfeeling pur. Der Saal, 1906 eröffnet und, wie das gesamte Haus, in den Jahren 1993 bis 1997 gekonnt restauriert, ist feinster Jugendstil der Prinzregent-Luitpold-Zeit. Sissi, Franz Josef, der Wiener Hofball und die Kaleschen von Bad Ischl lassen grüßen.

 

Ein Ballsaal für alle

Hoch gewölbt und weiß ist der Waitzinger Keller-Saal und groß, aber auch dies vielleicht eines seiner Geheimnisse, nicht zu groß… Mit ehrlicher Patina schimmert der dunkle Holzboden unter den Füßen – haben Sie jemals bemerkt, dass er Intarsien hat? Sehen Sie beim nächsten Mal genau hin… 4 große Quadrate sind es, in dunklen Lamellen abgesetzt, die den Saalboden in Rechtecke teilen, was dem weiten Raum optisch mehr Halt gibt. Dann gleitet der Blick hoch hinauf. Fast 12 Meter über dem Parkett schweben unter der Kassettendecke die Lüster: Der mittlere ist ein doppelter Ring, die beiden anderen nehmen als raffiniert-schlichte Leuchtreifen das Gold der Stuckaturen an den Säulenkapitellen auf. 4 Säulen stehen auf jeder Seite frei auf den Boden der Galerien, zwei Säulen tragen als Anten die Deckenlast ab. Weiß, dunkles Holz, Gold, das Blau der Sitze, das sich im gesamten Waitzinger Keller an vielen Stellen und in Nuancen wiederfindet, bestimmen die Atmosphäre im Saal – das alles gespiegelt und wieder gespiegelt in den Kassettentüren… Nur ein Element bricht farblich aus: An der Nordseite, dort, wo sich der Waitzinger Keller zur Stadt hin öffnet, lassen vom technisch hochgerüsteten, eckigen Mischpult fast verdeckt, drei Bogenfenster Licht herein. Auch sie erkunde ich nun aus nächster Nähe: Es sind drei Bogenfenster, das mittlere zeigt Rosen, die sich nach oben ranken – auch diese Fenster sind reiner Jugendstil, die Originale des Glasermeisters Andrä Egger.  

Ich raffe im Geist mein Empirekleid und trippele hinauf auf die Galerie. Von hier oben erkennt man, dass sich im Saal Schönheit und Funktionalität aufs Beste ergänzen. Jetzt erst entdecke ich die langen Reihen der Scheinwerfer, erkenne die Lautsprecher, sehe die vielen Spots – das alles schwenkbar und bei Bedarf millimetergenau zu justieren. Mir fällt wieder ein, was Max Kalup sagte: dass im ganzen Haus vieles vom Techniker-Trio selbst ausgetüftelt und von ihnen gewartet wird. So steht dem Miesbacher Publikum ein Saal zur Verfügung, der nicht nur architektonisch ein Juwel ist – nichts Vergleichbares findet sich in Bad Tölz oder Rosenheim – sondern auch eine mit viel echtem Herzblut, Kreativität und Können bereit gestellte Technik. Der Saal ist ein Wunder, der ideale Partner für die Veranstaltungen, die das Haus in Hülle und Fülle auf hohem und höchstem Niveau seit der Wiedereröffnung 1997 pausenlos offeriert. Doch er ist nicht allein in diesem erstaunlichen Haus auf dem Hügel.

In tiefster Tiefe

Über zwei lange Treppen  gelangt der Besucher in die Tiefe des Hauses. Hier erstreckt sich die Ebene der drei Gewölbe. Jedes ein perfekter Kontrapunkt zum Saal, jedes in seiner klaren Rohheit offener Ziegel und unverputzter Steine ein Ort, der sofort beim Eintreten das atavistisch-archaische Gefühl elementarer Geborgenheit antriggert, das unsere frühes Ahnen vermutlich beim Anblick eines rettenden Abris ergriff: Geborgenheit – freundliches Dunkel – menschliches Miteinander. Da mochten Gewitter aufziehen oder sich Höhlenbären herumtreiben – für den Moment war man sicher. Und so strahlen die Gewölbe jenen Charme aus, den auch Hinterhof-Theater ihr eigen nennen. Die Gewölbe des Waitzinger Kellers sind Orte, in deren Intimität man sich künstlerischen Experimenten ebenso öffnet wie esoterischen Grenzerfahrungen, Orte an denen vom Gespräch auf der Blauen Couch bis zum Ein-Mann-Stück des Judas alles möglich ist. Orte aber auch, an denen die ganze Stadt zusammensitzen kann bei Weißwurst, Bier und Brezen und spürt: Wir sind Miesbach.

 

Verena Wolf im Juni 2020