Werner Schmid | Corona – Wandel in Freiheit

>Einleitung

Kurz zu meiner Person:
Ich bin 68 Jahre alt, pensionierter Verwaltungsjurist, und lebe mit meiner Frau in Holzkirchen und im Unterengadin, befasse mich seit den 80er Jahren mit Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen und engagiere mich deshalb auch seit langer Zeit ehrenamtlich in verschiedenen Organisationen.

Nach meiner Erfahrung sind Krisen häufig Anlass oder zwingen sogar dazu, Gewohnheiten und Einstellungen zu hinterfragen oder sogar das Leben zu ändern. Die Corona-Krise hatte und hat gewaltige globale Auswirkungen auf Gesellschaften, Wirtschaft, Finanzsysteme und den gesamten sozialen Bereich. Dabei sind die längerfristigen Folgen der Corona-Krise noch gar nicht absehbar.

>persönliche Betroffenheit

Gott sei Dank sind weder meine Frau noch ich von dem Covid19-Virus gesundheitlich betroffen. Ohne spürbare Krankheitssymptome haben wir bisher auch keine Tests durchführen lassen. Obwohl ich altersmäßig auch zu den Risikogruppen gehöre, hatte ich bis jetzt keine besonderen Ängste vor einer Ansteckung oder einer schweren Erkrankung entwickelt. Ich bin aber weit davon entfernt, gesundheitliche Risiken durch das Virus zu verharmlosen, denn es gab auch einen Todesfall im Freundeskreis….

Mit meinem Geld komme ich gut aus und ich habe seit dem „akuten lock down“ auch etwas weniger Geld ausgegeben als sonst. Psychologisch spielen für viele Umstände wie Ausgangsbeschränkungen, Schließung von Geschäften und Einrichtungen und die Maskenpflicht beim Konsumverhalten schon eine beträchtliche Rolle. Die Beschränkungen der persönlichen Freiheit haben mir wenig ausgemacht. Unser Haus und unser Garten in Holzkirchen bieten genügend Bewegungsfreiheit und wir haben uns auch viel im Freien bewegt bei Spaziergängen und beim Joggen.

Insgesamt fühle ich mich eher in einer privilegierten Situation. Die gleiche Einschätzung habe ich von zahlreichen anderen Menschen gehört, gerade auch von Pensionisten und Rentnern. Bei Menschen, die Kriegszeiten oder wirtschaftliche Notzeiten persönlich erlebt haben, hörte ich auch keine Klagen wegen solcher Einschränkungen. Eine Besonderheit kommt mir in den Sinn. Das Pendeln – in der Regel mit Bahn und Bus – zum weiteren Wohnsitz im Unterengadin war wegen der geschlossenen Grenzen immerhin für 9 Wochen nicht möglich – das erfüllte mich mit Wehmut.

>Vorgehensweise

Im Folgenden wende ich mich mit der Frage, was die Corona-Pandemie in verschiedenen Lebens- und Handlungsbereichen verändert hat, aber vor allem in der Zukunft verändern könnte, beschäftigen. Frau Dr. Monika Ziegler motivierte mich dazu, meinen bereits dazu verfassten Beitrag in verkürzter und persönlicherer Form in das Projekt einzubringen.

Wichtige Fragen für mich sind Freiheit und ihre Grenzen, Gerechtigkeit, Demokratie und entscheidende Werte für eine zukunftstaugliche Gesellschaft – aber jede Geschichte kann weiter geschrieben werden. Beginnen möchte ich mit

>Selbstreflexion

Veränderung fängt bei uns selbst an. Deshalb habe ich mir in den vergangenen Monaten auch immer wieder Fragen wie diese gestellt: Wie komme ich mit der jetzigen Situation zurecht? Bin ich gelassen? Bin ich aufgebracht? Wofür nehme ich mir mehr Zeit? Was machen die Diskussionen zu Corona mit mir? Sehe ich meine Bedürfnisse anders? Was fehlt mir am meisten? Was finde ich positiv? Schaue ich optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft? Hat sich mein Verhältnis zu anderen geändert? Gibt es mehr Bereitschaft, anderen zu helfen?

Fragen stellen heißt, sich selbst zu beobachten. Auch wenn ich dies öfter und intensiver als früher tue: Ich bin in der „Corona-Zeit“ kein anderer Mensch geworden. Nach wie vor habe ich bestimmte Verhaltensmuster und bin keineswegs frei von Gefühlen wie Wut, Trauer und Ohnmacht. Und obwohl ich ein neugieriger Mensch bin, ist mir die übermächtige Dominanz des Corona-Themas oft zu viel.

In der Zeit der strengsten Beschränkungen versuchte ich mir bewusst zu machen, was ich wirklich brauche, um mich gut zu fühlen z.B. an Nahrung, Gebrauchsgütern, Ablenkungen, Programm, Bewegung, Sport, Reisen, Kommunikation oder an persönlichen Kontakten?

Meine Feststellung: Ich kann recht einfach und minimalistisch leben, ohne dass mir die Decke auf den Kopf fällt. Was ich brauche sind geistige Anregungen, der Austausch mit interessierten und interessanten Menschen, eine gewisse Bewegungsfreiheit und auch Abwechslung im Tagesablauf. Der Ersatz für persönliche Kontakte waren häufigere und längere Telefonate und eine intensive e-mail Kommunikation.

>Orientierung

Schwierig finde ich es, angesichts von Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, Beispiele sind China, Iran, USA, einem eigenem Kompass zu folgen, der einem vor dem Schlimmsten bewahrt. Patentrezepte gibt es für mich nicht und auch meine Meinungen und Bewertungen schwanken mitunter. Es hilft, sich aus vielfältigen Quellen zu informieren, mit anderen Menschen zu diskutieren und mit dem gesunden Menschenverstand zu überprüfen.

>Freiheit und Demokratie

Für mich sind das sehr wichtige Themen. Freiheitsrechte wie Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit oder freie Berufsausübung sind in unserer Zivilisation und für mich persönlich entscheidende Werte. Sie dürfen nur aus überragend wichtigen Gründen so stark wie jetzt eingeschränkt werden. Das Recht auf Leben und Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) ist ein solcher Grund. Im Großen und Ganzen finde ich, ist die Balance zwischen der Freiheit auf der einen Seite und dem Gesundheitsschutz auf der anderen Seite eingehalten und ich habe deshalb mit den staatlichen Maßnahmen kein Problem.

Die Frage ist: Kann uns die aktuelle Erfahrung allgemein zu der Einsicht führen: Freiheit ist auch Verantwortung. Ein Beispiel: Eigentum ist in der Verfassung, garantiert, gleichzeitig ist festgehalten: Eigentum verpflichtet (Art. 14 Abs. 2 GG). Und die Corona-Krise zeigt, wie eng Rechte und Pflichten verknüpft sind. Wir werden vom Staat verpflichtet, zu Hause zu bleiben, auch wenn wir gesund und nicht infiziert sind. In erster Linie, um gefährdete Menschen, insbesondere alte und/oder solche mit Vorerkrankungen,  zu schützen. Andere Grundrechte, etwa die Religionsfreiheit, müssen zum Schutz des Gutes Gesundheit hintanstehen. Doch muss es rechtlich überprüfbar und verfassungskonform sein. Totalitäre Systeme sind schnell bei der Hand, wenn es um Einschränkungen, Verbote oder Überwachung geht, um den Preis der Freiheit.

Bei uns will das (fast) niemand, aber trotzdem müssen wir auch als Demokraten wachsam bleiben. Ein Notstand ist nur ein Notstand auf Zeit, die Freiheit darf nicht dauerhaft „weggesperrt“ werden,  wie es der österreichische Liedermacher Georg Danzer eindrucksvoll in seinem Lied „Die Freiheit“ beschreibt.

Im politischen Raum ist die Kunst, mit Empfehlungen und Geboten ein Klima der Einsicht zu erzeugen und das Verhalten nicht „nur“ mit Verboten zu lenken. Die zunehmenden Proteste und Demonstrationen zeigen, auf welch schmalem Grat sich der Staat gerade befindet. Das wird, finde ich, gut und kritisch von Juli Zeh, Politikerin, Landesverfassungsrichterin und Bestsellerautorin in einem Artikel beschrieben. Es wird von ihr auch das Beispiel Schweden als Möglichkeit der Eigenverantwortung erwähnt, wo inzwischen allerdings der verantwortliche Virologe Fehler eingeräumt hat.

Es bleibt also offen, wo die Grenze zwischen Selbstverantwortung und staatlicher Regulierung zu ziehen ist.

Persönlich bin ich eher skeptisch über den Einsatz elektronischer Medien zur Nachverfolgung von Infizierten, auch wenn das Installieren einer entsprechenden „App“ bisher freiwillig ist. Aus persönlichen Gründen besitze ich kein Smartphone und ich kenne einige, die ebenfalls „abstinent“ sind. Für mich bleiben Zweifel an der Datensicherheit und ich sehe die Gefahr einer Überwachung und Kontrolle.

Nochmals zurück zur Freiheit in Verantwortung. Freiheit kann auch der bewusste Verzicht auf die Ausübung eines Freiheitsrechts sein. Verzichte ich auf weitläufige Ausflüge während der Zeit hoher Ansteckungsraten, obwohl es nicht verboten ist, handle ich in Freiheit, also aus eigener Überzeugung und Verantwortung heraus. Ich finde es wichtig, dass freiwillige „Apps“ an demokratischen und rechtsstaatichen Prinzipien zu messen sind und es eine parlamentarische Kontrolle des Einsatzes und die Überprüfung durch eine unabhängige Kommission, etwa einen Ethikrat gibt. Auch der israelische Bestsellerautor und Hochschullehrer Yuva Noah Harari fordert strenge Regeln dafür, um einen Missbrauch der Daten möglichst auszuschließen.

Oder sollte doch der Kabarettist recht haben, der kürzlich sagte: „Demokratie ist auch, wenn eine Mehrheit es richtig findet, dass sie beschissen wird“. Freiheit im Sinne der Existenzphilosophen (wie Sartre, Camus, Heidegger) ist ein schicksalhaftes „Hineingeworfensein“ der Menschen in das Leben, ohne aber wirklich frei zu sein.

 >Gesellschaft:

Die Corona-Pandemie hat gewaltige gesellschaftliche Auswirkungen, vor allem weil das soziale und kulturelle Leben fast zum Erliegen kam. Erst spät hat die Politik erkannt, welche Bedeutung Einrichtungen und Angebote haben. Auch mein Philosophiekurs des Sommersemesters an der hiesigen Volkshochschule fiel aus. Ich bin skeptisch, ob die staatlichen Förderungen langfristig die Folgen ausgleichen können, dies muss sich erst noch erweisen.

Krisen und speziell die Corona-Krise hat viel Hilfsbereitschaft und Solidarität ausgelöst . Für mich hat es deutlich gemacht  „Wir sitzen alle in einem Boot“. Ständig zeigen uns Nachrichten die Schicksale Betroffener in Europa und der ganzen Welt. Also beherzigen wir die genannten Werte doch auch bei anderen globalen Herausforderungen wie Klimaschutz, Migration und Digitalisierung.

Und als Gesellschaft müssen wir uns fragen, wie verdichtet alles sein muss? Aus dem oft grenzenlosen Anspruchsdenken resultieren fast industriell anmutende Strukturen in vielen gesellschaftlichen Bereichen wie Kunst und Kultur, Sport. Tourismus, Lebensmittelversorgung, Landwirtschaft etc. Muss nicht eine neue Balance zwischen Verwirklichung des Individuums und dem Gemeinwohl gefunden werden?

Und da bin ich nicht zuletzt durch mein ehrenamtliches Engagement relativ optimistisch. Das Bewusstsein für regionale Produkte wird größer, zahlreiche Initiativen bringen neuen Schwung in diese Bewegung.

Kann aus der Corona-Erfahrung ein neuer Wertekanon erwachsen: Bescheidenheit, Gelassenheit, sich Zeit nehmen, Ansprüche reduzieren, das Gespräch suchen und pflegen? Eine wichtige Frage ist aber: Wo und in welchem Rahmen können drängende Fragen der Zukunft diskutiert werden?

Meine Meinung ist, dass natürlich digitale Medien künftig eine größere Rolle spielen – das sind auch die Erfahrungen der Corona-Zeit. Und doch braucht es auch persönlichere Formen des Austausches und der Diskussion, etwa als unabhängige, offene Gesprächsforen, die meinungsbildend wirken sollen. Dafür braucht es Geld, eigentlich Aufgabe von Staat und Kommunen. Doch hier bestehen erhebliche Lücken und Probleme, gerade auch in der Corona-Zeit mit den strengen Regeln für Veranstaltungen.

Was braucht es noch? Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat den Begriff des „kritischen Diskurses“ geprägt. Er ist für mich ein Schlüsselinstrument, um die „inneren Dämonen“ unserer Gesellschaft, wie Hass und Gier, vor denen der bereits genannte Autor Harari „mehr Angst hat als vor dem Virus“, wirksam zu begegnen?

>Gerechtigkeit

Viele Diskussionen, die bereits im Fluss sind, drehen sich um Fragen der Gerechtigkeit. Ich merke das immer wieder unmittelbar, im Einzelgespräch, in Gruppen oder am Stammtisch. Denn je nach Standpunkt und eigener Sozialisation vielleicht für wichtig, dass bald wieder Fußballspiele mit Zuschauern stattfinden dürfen, neue Autos gekauft werden können oder Kinder aus verschiedenen Familien wieder miteinander spielen dürfen (vor den Lockerungen). Bereits jetzt werden Gerichte angerufen, damit die Waage der Justitia nachprüft, ob staatliche Maßnahmen notwendig und in der Abwägung auch gerecht sind.

Das mag im Einzelfall gelingen, etwa, wenn es um die vertretbare Größe von Räumen des Einzelhandels geht, der seine Türen wieder öffnen darf.

Aber es liegt eben oft an verfestigten Systemen, dass wir heute Vieles nicht mehr als gerecht empfinden. Dazu gehört jetzt die schlechte Bezahlung verschiedener Berufe. In der Krise erkennen wir, wie entscheidend Leistungen von Menschen in der Pflege, im Verkauf oder bei der Zustellung sind. Hier müssen wir uns deutlich und lautstark äußern, dass wir die vorherrschenden Lohn- und Gehaltsstrukturen nicht mehr für tragbar halten.

>Gesundheitssystem:

Gott sei Dank hatte ich und niemand aus unserer Familie in der akuten Corona-Phase gesundheitliche Probleme und war deshalb weder auf ein Bett in einem Krankenhaus noch auf einen eiligen Arzttermin angewiesen. Doch von Bekannten und Freunden erfuhr ich, dass anstehende OP-Termine und wichtige Behandlungen und Reha-Maßnahmen verschoben werden mussten. Dabei haben wir ein relativ leistungsfähiges Gesundheitssystem und auch ein gutes „Polster“ an Intensivbetten. Andererseits hatten wir in Deutschland mit dem Verlauf der Pandemie noch Glück.

Einige Lehren sollte man aus der Krise für die Zukunft ziehen:

  • Die nächste Pandemie kann schon vor der Tür stehen, sei es eine zweite Corona-Welle oder mit einem anderen Ansteckungsherd. Pandemiepläne aufstellen ist das eine, sie umzusetzen ist das andere. Wer trägt für Versäumnisse die Verantwortung?
  • Während sehr viel über die Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe berichtet wird, hört und liest man sehr wenig über Möglichkeiten, unser Immunsystem zu stärken. In einer Schweizer Zeitung, der Engadin Post fand ich immerhin einen längeren Artikels eines Schweizer Arztes für Traditionelle Chinesische Medizin, der über wirksame Kräuteranwendungen berichtete, mit denen auch Menschen in Wuhan behandelt wurden.
  • Die Bedeutung der Heil- und Pflegeberufe in einer solchen Krise hat sich überdeutlich herausgestellt. Und es ist jetzt ein echter Glaubwürdigkeitstest, ob es der Staat schafft, die finanzielle und gesellschaftliche Situation dieser Berufsgruppen dauerhaft zu verbessern.

>Grenzen und Ergänzung der Politik

Mich interessiert Politik, ich bin aber parteipolitisch derzeit nicht aktiv. Was mir auffällt:
Die Politik bemüht sich in diesen Wochen um ein gutes Krisenmanagement. Das Bemühen um entschlossenes und nachvollziehbares Handeln darf man – bezogen auf Bayern und Deutschland – anerkennen. Regierungen haben auf Fachleute wie Virologen und Epidemiologen gehört und Bayern hat sogar einen Ethikrat eingesetzt. Erkennbar ist, dass unsere föderalen Strukturen Vor- und Nachteile haben. Gerade bei Lockerungen, wie etwa vorzeitige Schulöffnungen, können die Länder flexibel reagieren, erzeugen aber auch Debatten über deren Berechtigung.

Ich wage die These: Ein tiefgreifender Wandel von systemischen Strukturen, z.B. Gesundheitssystem, oder im Werteverständnis kann in nächster Zeit von der Politik allein nicht bewältigt werden. Genauso wenig wie die sog. „Märkte“ die Folgen der Corona-Krise regeln können. Die Politik braucht neben dem Willen zur Veränderung den Druck und die Unterstützung der Gesellschaft.

Das parlamentarische System muss meines Erachtens sinnvoll ergänzt werden – unter Beteiligung unabhängiger Experten (Ethikrat, Gesellschaftsrat). Neben den mit Fachleuten besetzten Gremien sollte es auch Bürgerräte, besetzt nach dem Losverfahren auf den verschiedenen Ebenen geben. Ein Beispiel dafür gab Island 2012, das einen Verfassungsentwurf von einem gewählten Bürgerkonvent ausarbeiten liess, der dann vom Volk mit grosser Zustimmung angenommen wurde.

Zur Weiterentwicklung gehört für mich auch mehr Fehlerkultur bei Regierungen und Parteien, also Fehler einzugestehen und bei Bedarf Korrekturen vorzunehmen.  Notwendig ist eine schonungslose Analyse, welche politischen Fehler überhaupt dazu geführt haben, dass sich die Pandemie in dieser katastrophalen Weise ausgebreitet hat. Ein Kuriosum am Rande: China hat nach Ausbruch des Corona-Virus das Essen von Katzen und Hunden verboten.

>Vernachlässigung wichtiger Themen

Mich treibt die Sorge, dass die Corona-Krise dazu führt, wichtige Felder der Zukunft zu vernachlässigen und nötige Anstrengungen herunterzufahren. Ich will nur drei Themen nennen: Klimawandel, Migration, Agrarwende.

Das Beispiel Somalia etwa zeigt, wie das Land u.a. wegen des unterentwickelten Gesundheitssystems mit der Pandemie völlig überfordert ist. Und einige afrikanische Länder haben derzeit auch mit Ebola oder der Heuschreckenplage zu kämpfen.

Die Corona-Krise lehrt, dass die Bürger bereit sind, auch starke Einschränkungen hinzunehmen, wenn es ihnen einleuchtend und eindringlich erklärt wird. Wieso weigert sich die Politik, auch beim Klimawandel so zu verfahren. Die deutschen und europäischen Klimaziele sind angesichts der Bedrohung nicht ausreichend und es wäre gerade ein Treppenwitz einer laschen Umweltpolitik, wenn Deutschland seine Klimaziele für 2020 gerade wegen der Corona-Krise erfüllen könnte und sich dann selbstzufrieden in seiner bisherigen Strategie bestätigt fühlt.

Mein Vorschlag wäre z.B., dass der Pro-Kopf-Ausstoß von Treibhausgasen von durchschnittlich 10 t pro Jahr auf 3 t herunter muss.

Ich schlage einen kreativen Wettbewerb für eine Kampagne vor. Ein Versuch:  Sei solidarisch beim Klima – Geh runter vom (Treibhaus)-Gas- 3 Tonnen pro Jahr sind genug! Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt!

>Wirtschaft

Als Konsument konnte ich mit den Beschränkungen in der gewerblichen Wirtschaft gut umgehen. Mein Einkaufsverhalten hat sich kaum geändert. Ich habe keine online-Käufe getätigt und auch nur das gekauft – vor allem Lebensmittel – was unbedingt notwendig war. Aber ich machte mir natürlich auch Gedanken über die betroffenen Läden, Geschäfte und Unternehmen und bekam es praktisch mit im familiären Kreis.

Schließungen oder Beschränkungen bedeuten für die Betroffenen (Inhaber, Mitarbeiter, Familien) oft hohe Einbußen und teilweise existenzielle Nöte. Staatlicherseits ist es wichtig, Perspektiven zu geben und Hilfen zu gewähren. Einen wirklich verlässlichen Rahmen für die Zukunft zu schaffen, kann derzeit niemand. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle. Die „Wirtschaft wieder hochfahren“, ist eine oft gehörte Losung. Klar ist, dass die verschiedenen Wirtschaftszweige in die Lage versetzt werden müssen, möglichst wieder aus eigener Kraft wirtschaften zu können.

Vor allem der für die Nahversorgung so wichtige Einzelhandel, der besonders unter der Krise leidet, braucht Unterstützung md Solidarität, vor allem von uns Verbrauchern.

Aber wie sollen künftig „Beschleunigung, Höchstgeschwindigkeit und Ökodesign“ aussehen, um in der Sprache der Automobilbauer zu bleiben? Wie kann man sich auf ein neues, dem Wandel angepasstes System verständigen? Wie können regionale, nachhaltige und am Gemeinwohl orientierte Elemente in die Wirtschaft integriert werden? Wie und wo muss reguliert, wo neue Anreize gesetzt werden?

Grenzenlose Globalisierung, knappste Preiskalkulationen, nicht überschaubare Lieferketten und shareholder-value-Mentalität sind für mich überholte Ausprägungen einer nicht zukunftsfähigen Wirtschaft.

>Kultur

Erst langsam, so meine Beobachtung, wurde während der Corona-Beschränkungen deutlich, wie „arm“ wir eigentlich sind, wenn das soziale und kulturelle Leben vom unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum. Deshalb sollten wir diese vielen unterschiedlichen kreativen Leistungen mehr schätzen als vielleicht manchmal in „normalen Zeiten“. Ich habe mich deshalb einige Male, auch finanziell, bedankt bei Freischaffenden, die sehr stark unter der Krise litten oder noch leiden.

Aber auch hier gilt: Nicht alles muss oder kann so bleiben wie es ist. Eine „Kulturindustrie“ mit Massenprodukten sollte nicht das Modell der Zukunft sein.

>Finanzen

Ich mache mir Sorgen, ob die öffentlichen Haushalte und damit wir Steuerzahler die Kosten zur Bewältigung der Corona-Krise stemmen können. Denn es ist sehr ungewiss, ob die Steuerquellen jemals wieder so sprudeln können wie früher und die diversen Rettungspakete damit finanziert werden können.

Mir fehlt die Diskussion über Alternativen. In einer Radiosendung (BR 2) erinnerte ein Hörer an das Modell des Lastenausgleichs, das schon einmal zur Bewältigung der enormen finanziellen Herausforderung nach dem 2. Weltkrieg angewandt wurde. Ich wünsche mir mehr Mut auch zu unkonventionellen Lösungen!

>Medien

Ich bekenne mich als Freund „klassischer Medien“ wie Zeitung und Radio. Und wie ich waren und sind viele dankbar, dass diese Medien auch in diesen schwierigen Zeiten funktionieren. Bedauert habe ich, dass diese Medien sich sehr stark auf das eine Thema Corona fokussiert und andere wichtige Themen vernachlässigt haben. Natürlich waren auch Zeitungsredaktionen und Radiosender in ihren Möglichkeiten eingeschränkt.

Da Live-Kommunikation häufig nicht möglich war bzw. ist, haben digitale Online-Angebote Konjunktur, auch ich bin dankbar für Webinare oder Vorträge auf YouTube. Allerdings ist meine Beobachtung, dass Verschwörungstheorien online schneller und massiver Verbreitung finden und es stört mich, dass manche Menschen ständig digitale Medien nutzen und die direkte Gesprächskultur verschwindet.

Schließlich fällt mir auf, dass corona-spezifische Anglizismen schon Bestandteil unserer Alltagssprache geworden sind.  Begriffe, wie social distance, lock down oder home schooling gehen uns seit kurzem leicht von den Lippen.

>Weltgemeinschaft

1992 hatte ich große Hoffnung in die Agenda 21 von Rio de Janeiro gesetzt. Die internationale Staatengemeinschaf hatte sich ehrgeizige Ziele gegeben. Es ist enttäuschend, was daraus geworden ist. Viele Ziele wurden wegen des Vorrangs nationaler Interessen nicht erreicht.

2020 zeigt die Pandemie wiederum, dass bei solchen globalen Krisen die Solidarität unter allen Staaten nötig ist. Neben den national getroffenen Maßnahmen muss eine Koordinierung von medizinischer Forschung, Bereitstellung von Schutzausrüstungen, ein weltumspannendes Frühwarnsystem, ein verpflichtendes Meldesystem und ein globaler Hilfsfonds über die UNO sichergestellt werden. Mögen auch verschiedene Aktionen der WHO in der Corona-Krise (z.B. zögerliche Einstufung als Pandemie) Anlass zur Kritik geben, eine Sperrung von Finanzmitteln, wie gerade von den USA praktiziert, ist gegenüber der Weltgemeinschaft verantwortungslos.

>Wissenschaft

Für mich war und ist es eine Genugtuung, dass die Wissenschaft, also vor allem die medizinischen Fachbereiche Epidemiologie und Virologie in der Corona-Krise eine kaum mehr gekannte Bedeutung zukommt. Mein Eindruck ist: Das erste Mal seit langer Zeit haben politische Entscheidungsträger den Wissenschaftlern wieder zugehört und ihre Empfehlungen ernst genommen.

Das Beschriebene sollte Richtschnur auch für andere globale Herausforderungen sein: Klimawandel, Artensterben, Agrogentechnik und Wirkung elektromagnetischer Felder. Der Beitrag unabhängiger Wissenschaftler ist bei diesen Punkten noch mehr gefragt.

>Ökologie

Ich würde mich sehr freuen, wenn sich aus den Erfahrungen mit Corona ein stärkeres ökologisches Bewusstsein herausbildet. Viele Menschen, mit denen ich spreche, sind sensibel gegenüber den Belastungen, denen unsere Ökosysteme ausgesetzt sind. Sie wollen weder ungebremsten Luftverkehr, Kreuzfahrttourismus, Regenwaldabholzung noch Massentourismus. Sie wollen sich lieber bewusst mit der Herkunft ihrer Konsumgüter und Lebensmittel auseinandersetzen, den Plastikverbrauch reduzieren und mehr regional und biologisch einkaufen. Das notwendige Umdenken funktioniert am besten über nachhaltige Projekte, an denen man sich beteiligt. Ob solidarische Landwirtschaft in Holzkirchen, die Einführung des vegetarischen “Miaschburgers“ im Landkreis oder der „Miesbacher Weg“ einer nachhaltigen Landwirtschaft der Zivilcourage Miesbach, bei der ich selbst mitarbeite.

>Ausblick

Die Corona-Krise hat uns wichtige Dinge aufgezeigt und zahlreiche Punkte unseres modernen Lebens  in Frage gestellt: die Wichtigkeit von sozialen Kontakten, die Anfälligkeit des Gesundheitssystems, die Verletzlichkeit einer globalisierten Welt, die Wichtigkeit von Kultur, die Einseitigkeit unseres Wirtschaftssystems und die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit.

Lösungen können meines Erachtens nur durch solidarisches Handeln der Weltgemeinschaft und seiner Mitglieder erreicht werden.

 

Werner Schmid
Holzkirchen im August 2020