August 2020
Anfang April, also gut zwei Wochen nachdem die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in ganz Deutschland verhängt worden waren, rief mich meine Freundin Monika aus Lübeck an. Monika, immer den Finger am Puls der Zeit, wollte wissen, ob ich mich auch so ärgerte über das Verhalten meiner Mitmenschen – sie war deutlich entrüstet und aufgebracht. Ich verstand nicht. Wovon sie denn rede?, musste ich nachhaken. Und schon las sie mir die Schlagzeile ihrer Tageszeitung, der Frankfurter Rundschau, vom Morgen vor: „Macht Corona uns zu Denunzianten?“
Ich war sprachlos, dachte kurz nach und erklärte drei Sekunden später, den Aufmacher für ziemlich reißerisch zu halten. Ungerührt fütterte mich Monika jedoch mit weiteren Informationen aus der FR: Allein in Baden-Württemberg hätte es in den letzten zwei Tagen dreitausend private Anzeigen wegen Verstößen gegen die Kontaktsperre gegeben. Ich kapitulierte für den Augenblick und versprach, mich zu informieren.
Nun bin ich in einem Teil Deutschlands aufgewachsen, den man, Diskussion hin oder her, mit Fug und Recht als Unrechtsstaat bezeichnen kann. In jenem Teil Deutschlands gab es keine freie Presse und keine Meinungsfreiheit, Literatur, Theater und Film wurden streng zensiert, der Staat übte sich in rechtlicher Willkür, die Bürger des „Arbeiter- und Bauernparadieses“, wie sich dieser Staat selbst anpries, wurden hinter einer Mauer eingesperrt und durften – natürlich – nicht laut sagen, was sie von all dem hielten: Es gab Heerscharen von Menschen mit großen Ohren, und wenn die einen verpetzten, sah es nicht besonders gut aus – mit der Ausbildung, mit der beruflichen Karriere oder auch nur mit dem kleinen bisschen Freiheit. Mit anderen Worten: Als DDR-Bürger musste man sich einrichten in einem Land, in dem man immer in Gefahr war, bespitzelt und an die „Staatsorgane“ verpfiffen zu werden. In meiner Stasi-Akte fand ich Einträge von der vermeintlich besten Freundin, eine gute Bekannte wurde zehn Jahre lang von ihrem eigenen Mann bespitzelt.
Als junger Frau gelang es mir, der DDR den Rücken zu kehren, und ich genoss fortan den Segen der Demokratie.
Nun also wieder Denunziation? Das mochte ich nicht glauben. Doch so wenig ich das wahrhaben wollte: Meine Lübecker Freundin – und die Frankfurter Rundschau – hatten recht. Die Polizei sah sich zu Beginn des Lockdowns einer Flut von Anzeigen gegenüber, die weit über das Ziel hinausschossen. Die Ordnungshüter baten die Bevölkerung, doch bitte „Augenmaß zu bewahren“ bei ihren Beschwerden. Da kamen unter anderem Anrufe, weil Kinder im Hinterhof spielten, weil sich ein paar Menschen im Park getroffen hatten, weil der Nachbar (womöglich mit Freunden!) viel zu laut feierte, oder weil da jemand – ohne jeden Grund – auf einer Parkbank herumsaß. „Längst nicht alle Anzeigen führen zu einem polizeilichen Einsatz“, war von der Polizei zu hören, die damit andeutete, dass es etliche Bürger übertrieben. In der Presse war von „anschwärzen“, „verpfeifen“ und „verpetzen“ die Rede.
Mir fiel ein bitterböser Witz ein, den mir eine polnische Holocaustüberlebende einmal erzählt hatte. Er kursierte während der Zeit der deutschen Besatzung in Polen und ging so:
Treffen sich zwei Polen auf der Straße. Fragt der eine den anderen:
„Und, wie kommst du so zurecht, wie verdienst du deinen Lebensunterhalt?“
Antwortet der: „Ich verstecke Juden. Und du?“
„Ich denunziere sie.“
Ich sprach mit meinem Mann. Der warnte davor, mit der These vom bösen Denunziantentum nicht zu überziehen. Klar sei es besser, mit Menschen, die grob fahrlässig gegen Corona-Regeln verstoßen, zu reden – andererseits gäbe es heutzutage auch jede Menge Quartalsirre, mit denen man sich besser nicht anlege. Gerade erst auf der Demo in Berlin seien Journalisten von Masken-Verweigerern, Verschwörungstheoretikern und Rechtspopulisten lautstark angepöbelt und sogar bespuckt worden. Und in solchen Fällen, sowie bei berechtigter Sorge um das Gemeinwohl, müsse es doch erlaubt sein, eine Beschwerde an die Polizei weiterzuleiten.
Da hat mein Mann natürlich recht. Trotzdem hat die Idee des Staates, Bürgerhinweise willkommen zu heißen, nicht nur die guten Seiten der Bürger nach oben gespült. Sie hat ein Spielfeld geschaffen für all diejenigen, die schon längst mal ihrem Nachbarn eins auswischen wollten, für die Oberlehrer und moralinsauren Rechthaber, für Profilierungsneurotiker und Menschen, die gerne mal Hilfspolizist spielen und Arm des Gesetzes sein wollen. Das waren offenbar nicht wenige. Die Polizei musste die Bürger bitten, doch bitte nicht die Notrufnummer zu blockieren und stattdessen die nächste Polizeidienststelle anzurufen oder anzumailen.
Meine Lübecker Freundin hatte gehofft, dass uns die Pandemie alle ein wenig näher zusammenrücken lässt. Aber der Mensch ändert sich eben nicht, auch nicht während einer Krise. Er tritt nur ein bisschen mehr ins Rampenlicht – mit all seinen schlechten wie den guten Seiten. Dass wir auch und gerade von letzteren in den vergangenen Monaten sehr viel gesehen und gespürt haben – Empathie und Solidarität, Aufopferungs- und Hilfsbereitschaft, Respekt und Toleranz, Disiplin und Kreativität – kann uns, so denke ich, jedoch gut über die Schattenseiten hinwegtrösten. Das findet auch Monika.
Hanna Miska