Florian Bachmeier | Erste Welle

Bis jetzt habe ich als Fotograf noch nie in einem solchen Format gearbeitet, das man fast als Tagebuch bezeichnen könnte. Aber nach langer Überlegung bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass das vielleicht die adäquate Art und Weise ist, die Bedrohung und das Leben mit Covid-19 zu dokumentieren und zu verarbeiten. Durch meine Arbeit als Fotograf musste ich mich in manchen Situationen mit Gefahr oder Bedrohung auseinandersetzen, aber dieses Mal ist es anders, diffuser. Diese Gefahr ist unsichtbar, überall und nirgends, grenzenlos. Es gab keine Klarheit, wie und welche Maßnahmen effektiv Schutz bieten, keine Protokolle oder Automatismen, die selbstverständlich abgespielt wurden.

In den ersten Tagen der Ausgangsbeschränkungen spürte ich die Angst in meiner Familie, das Bedürfnis nach Information. Mein Vater hörte aufmerksam Nachrichten im Radio und berichtete uns über neue Maßnahmen. An unserer Gartentür hing eines Morgens eine selbstgenähte Atemschutzmaske, die mir eine Nachbarin gemacht hatte. Die Straßen waren leerer, der nahe Grenzübergang bei Landl nach Österreich geschlossen. Das tägliche Leben verändert sich, Corona ist im Leben präsent, jeden Tag, andauernd – und der Umgang mit dem Virus hinterlässt Spuren…

In wenigen Tagen hat sich unser Leben verändert. Wir verbringen fast den ganzen Tag zu Hause. Ich lebe in einem Haus mit meiner Frau, meinen zwei Töchtern und meinen Eltern. Das Einkaufen erledigen wir in wenigen Gängen, kochen und essen immer zusammen. Meine ältere Tochter vermisst ihre Freunde, die sich nicht mehr fast täglich im Kindergarten sieht oder besuchen kann. Eines Morgens will sie eine Landkarte zeichnen, mit den Orten, an die wir gehen dürfen. Der Wald hinter unserem Haus gehört uns in diesen Tagen fast allein.

Wie viele habe ich mich gefragt, wie meine Arbeit als Fotograf in dieser Zeit von Nutzen sein könnte. Als die Tage vergingen habe ich gesehen, dass dieses Projekt nicht nur eine Beschäftigungstherapie ist, sondern in gewisser Weise zeigen kann, wie unsere Gesellschaft mit Krisen umgeht, sich adaptiert und vielleicht sogar ändern könnte. Obwohl wir selbst glückliche Tage verbracht haben, verfolgten wir mit großer Traurigkeit die Lage in Italien und vor allem in Spanien, wo die Familie meiner Frau lebt. Und auch hier sind es zunächst die am meisten schutzbedürftigen Menschen, die der Bedrohung am stärksten ausgesetzt sind und im Falle einer Erkrankung mit schlimmen Folgen rechnen müssen.

Zum Beispiel Ali aus Jalalabad, Afghanistan. Seit 2016 lebt er in einer Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Gasthof Zum Breitenstein in Fischbachau. Derzeit leben 28 Menschen in dem Gebäude, viele von ihnen Kinder. Mindestens zwei Personen müssen sich ein Zimmer teilen. Bisher wurde kein Bewohner infiziert. Ali arbeitet im Herbaria Kräuterparadies, wo er Schutzmasken bekam, er selbst versucht, Desinfektionsmittel zu kaufen, um sich und die anderen Bewohner zu schützen. Flüchtlinge in ihren Unterkünften sind der Bedrohung durch Corona besonders ausgeliefert, in einer anderen Unterkunft für Geflüchtete in Otterfing wurde ein Bewohner einige Tage später positiv auf das Coronavirus getestet und die Einrichtung unter Quarantäne gestellt.

Irgendwie hat man das Gefühl, dass man sich unbewusst ziemlich schnell an drastische Veränderungen gewöhnt. Die leeren Straßen, die geschlossenen Läden, die abgeriegelten Kirchen… Palmsonntag ist der erste hohe kirchliche Feiertag, die Tradition der Palmweihe in den Kirchen läuft nach strengen Regeln und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Auch meine Mutter sucht Halt im Glauben, betet täglich. Die Karwoche steht vor der Tür, fast unmöglich, nicht an den Tod zu denken und welche Folgen diese Krise haben könnte. Ich habe viele Verwandte in Spanien, und die Situation dort ist einfach unerträglich wegen der schieren Zahl von Opfern, wie ich immer wieder aus persönlichen Geschichten höre. Die Menschen sterben in der Regel allein in den Altenheimen, ohne die Möglichkeit, dass ihre Lieben Abschied nehmen können. Das dachte ich mir, als ich heute auf dem Friedhof in Schliersee war. Die anstehende Beerdigung war wahrscheinlich nicht auf einen Todesfall durch das Corona Virus zurückzuführen, wird aber in einem sehr kleinen Kreis stattfinden, da auch hier Einschränkungen gelten.

Inzwischen habe ich erfahren, dass auch jemand, der mir nahe steht an Covid-19 erkrankt ist und sich in sehr schlechter Verfassung befindet. Wir hören jeden Tag die Nachrichten aus Spanien, die Lage wird immer schlimmer, auch hier steigen die Fallzahlen. Und trotzdem, hier scheint es immer noch viele Menschen zu geben, die anscheinend noch immer nicht an eine akute Bedrohung glauben. Einmal drehte sich ein Paar nach mir um und bedachte mich mit einem zynischen Kommentar, weil ich beim Fotografieren eine Atemschutzmaske trage. Wenn ich längere Zeit an einem Ort verbringe, habe ich das Gefühl, einem sozialen Experiment beizuwohnen. Einmal habe ich einen Mann beobachtet, der selbst einen kleinen Platz in Miesbach einige Zeit beobachtete, auf dem mehrere Menschen zusammenstanden. Erst als sich die Gruppe auflöste, entschied er sich, nach kurzem Zögern, den Platz schnellen Schrittes zu überqueren.

Ich habe das Gefühl, dass sich die Ausgangsbeschränkungen auf dem Land ganz anders auswirken als in der Stadt. In der Innenstadt in München ist es teilweise gespenstisch leer. Aber auch hier treffe ich Menschen, die extrem unter der Situation leiden. Zum Beispiel drei Arbeiter aus Kroatien, die als Spüler in einem Braugasthaus gearbeitet haben und mit ihrer Arbeit auch ihre Wohnung verloren haben und jetzt vor dem Eingang eines Ladengeschäfts in der Sonnenstraße ihr Lager aufgeschlagen haben.

Mehr als zwei Wochen ist es nun her, dass in Bayern weitreichende Anfängliche Beschränkungen verhängt wurden. Die Menschen werden wegen der Corona-Epidemie weitgehend in ihre Häuser verbannt, viele Geschäfte sind geschlossen, und einige Unternehmen steuern auf den Konkurs zu. Viele stellen sich bereits die Frage: Wie lange muss das Land im Notbetrieb bleiben? Wann macht es Sinn, über Lockerung nachzudenken? Die Stimmung ist ambivalent, auf der einen Seite scheint viel weiter zu gehen, auf der anderen Seite scheint das Schlimmste nicht vorbei zu sein, wenn man sich die Entwicklungen in Frankreich oder Großbritannien anschaut, wo die Zahlen stark ansteigen… Die Welt scheint sich wirklich in einem kritischen Zustand zu befinden. Das Corona-Virus breitet sich rasch in den verschiedenen Ländern aus, mit einem Ausmaß und einer Schwere, die seit der verheerenden Spanischen Grippe 1918 nicht mehr zu beobachten war. Wenn keine koordinierten globalen Maßnahmen ergriffen werden, um sie einzudämmen, wird die Ansteckung bald auch zu einer wirtschaftlichen und finanziellen werden. Die Frage, die ich mir auch stelle, ist, ob es ein Umdenken geben wird, wenn es vorbei ist…

Als ich das Krankenhaus in Agatharied besuche, ist die Lage dort in diesem Moment zwar entspannt, eine Woche vorher waren aber schon einmal fast die intensivmedizinischen Kapazitäten ausgeschöpft. Auf der neu eingerichteten Covid-Station und auf der Intensivstation sehe ich zum ersten Mal Menschen, die sich in Folge einer Corona-Infektion in kritischem Zustand befinden. Das ganze Krankenhaus wurde praktisch in zwei Zonen unterteilt, Neuaufnahmen mit Verdacht auf eine Covid-Erkrankung werden am Eingang oder in der Notaufnahme getestet. Station 2A beispielsweise war die Palliativstation, bevor das Krankenhaus in verschiedene Bereiche aufgeteilt wurde, jetzt werden dort Corona-Patienten behandelt, die auf dem Weg der Genesung sind. Zum Zeitpunkt meines Besuchs mussten nur zwei Patienten mit Coronavirus auf der Intensivstation beatmet werden. Die Ärzte rechneten aber bereits mit einem Wiederanstieg der Fallzahlen, wenn die Beschränkungen gelockert werden. Die Ärzte und die Pfleger hier setzen sich jeden Tag aufs Neue der Gefahr einer Infektion aus, Ihnen gebührt großer Respekt, sie leisten ein enormes Arbeitspensum. Ein Patient, der mich in seinem Zimmer empfängt, wurde gemeinsam mit seiner Frau im Krankenhaus Agatharied eingeliefert. Seine Frau ist verstorben, er befand sich auf dem Weg der Besserung, allerdings unter starken Schmerzen. Sein einziger Wunsch nach seinem großen Verlust, das wiederholte er mehrmals, sei wieder einmal eine Nacht richtig durchschlafen zu können.

In den letzten Wochen nahm der Protest gegen die Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens stark an Fahrt auf. Tausende Menschen demonstrieren an Samstagen in München und in anderen Städten in Deutschland, oft unter Missachtung der Abstandsregeln. So wichtig das Recht auf Protest und Demonstrationen in einer demokratischen Gesellschaft sind, machen diese Veranstaltungen einfach Angst. Ich trage meine Maske vor allem um andere zu schützen, dort werde ich ausgelacht und aufgefordert, die Maske doch abzunehmen und endlich zu begreifen, dass alles nur eine große Verschwörung ist. Hier machen die Teilnehmer und auch viele, die einfach an der Absperrung stehen bleiben, gemeinsame Sache mit Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretikern, ein schmaler Grat zwischen dem ursprünglichen Anliegen, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in Frage zu stellen, und der Leugnung einer Pandemie, die hunderttausenden von Menschen bereits das Leben gekostet hat. Grundrechte wurden in Deutschland eingeschränkt, ja, das deckt auch die Verfassung. Darüber kann diskutiert werden, aber bei einer Demonstration geht es nicht nur um einen selbst sondern auch darum, wie weit man sich von dem gefährlichen Schwachsinn, der mit Vernunft oder Realität nichts mehr zu tun hat, vereinnahmen lässt. Erschreckend empfand ich die hohe Gewaltbereitschaft nicht nur Einzelner unter den Teilnehmern. Eigentlich wollte ich das Ende der Veranstaltung abwarten, aber nach handfesten Anfeindungen und den Ausführungen der ersten Redner konnte ich es einfach nicht mehr aushalten.

Florian Bachmeier