Hartmut Billy | Was man über sich und andere lernt

Ein kleines Tagebuch

Wir leben in einer gut organisierten Gesellschaft und für viele Menschen in Deutschland verläuft das Leben eher unaufgeregt, sicher und vorhersagbar (verglichen mit anderen Ländern).  Aus dieser trügerischen Sicherheit hat uns das Virus herausgeholt . . .

23.1.    Erste Pressemitteilung zu isolierten Ausbrüchen bei der Firma Webasto, das sieht alles noch gut kontrolliert und vor allem weit weg vom eigenen Leben aus.

5.2.    Ich treffe einen langjährigen Freund aus USA bei einem Zwischenstopp am Münchner Flughafen: traditionell beim verlängerten Frühstück zwischen seinen Flügen.

3.3.      Noch ahne ich es nicht: meine letzte Dienstreise zu einem Kunden, die Presse-mitteilungen zu Covid-19 häufen sich, Nord-Italien entwickelt sich zu einem Hot Spot in den Nachrichten. Die Berichte sind dramatisch, aber bei uns noch immer „business as usual”.

10.3.   Es wird so langsam Ernst: wir testen in großem Maßstab “Home Office”. Und man fängt an, sich über mögliche Infektionen in der täglich vollen U6 Gedanken zu machen. Wer von den anderen ist infiziert und könnte mich gefährden. Leichte Paranoia macht sich breit . . .

14.3.    Jetzt ist es soweit: wir haben offiziell 14 Tage Heimarbeit, die Schließung der Schulen/Kindergärten/ . . . wird angekündigt. Die Firma und die ganze Gesellschaft wird herunter getaktet, Virologen werden die neuen Talkshow Stars, mehr und mehr Menschen sind jetzt sensibilisiert.

15.3.    Letzter Kinobesuch mit dem Film “System Milch”, aber alle verabschieden sich sofort danach, es gibt keinen Brunch hinterher. Der andere erscheint verdächtig, könnte ja sein . . .

16.3.    Ich hole meine Unterlagen aus dem Büro, sicher natürlich mit dem eigenen Auto. Das Virus übernimmt immer stärker die Regie über unser Leben. Etwas Nervosität kommt auf, ob man sich vielleicht schon angesteckt hat.  Wir separieren uns, das soziale Wesen Mensch zieht sich in seinen privaten Raum zurück.

21.3.    Ausgangsbeschränkungen treten in Kraft, man bewegt sich nur noch mit Abstand, Maske und Vorsicht zum Nötigsten, die körperliche Nähe zu „Fremden“ wird vermieden. Aber es gibt auch positive Erfahrungen: eine höfliche Rücksichtnahme wird in vielen Fällen zur Routine, die man vorher so nicht mehr kannte.

22.3.    Nachdem der direkte Kontakt zu Freunden auch verboten ist, fange ich auch an zu „Zoomen“ und mein Freund aus den USA ist der erste. Es wird nicht das einzige Zoom Meeting bleiben . . .

April    Nach drei Wochen im engsten Familienkreis treten erste soziale Mangelerscheinungen auf. Andererseits: wir fangen in einem kleinen Freundes- und Kollegenkreis an, die vielfältigen und oftmals auch widersprüchlichen Informationen über das Virus und seine Ausbreitungsmechanismen zu sortieren und damit auch besser zu verstehen. Das Gefühl der Hilflosigkeit weicht langsam einem faktenbasierten Verständnis. Peu a peu bekommen wir wieder ein Gefühl, wie wir unser Leben mehr selbst- und verantwortungsbewußt gestalten können . . .

Mai      Für ein paar Wochen war auch die Politik geschlossen hinter den angeordneten Maßnahmen gestanden, unabhängig davon, ob in dem Wust von schnellen Entscheidungen alles logisch, gerecht, ausgewogen, juristisch einwandfrei, …  war, geeint durch einen quasi unsichtbaren Feind. Jetzt bringt man sich wieder in Stellung, auch angetrieben durch eine Presse/ öffentliche Meinung, die nicht mehr nur über Covid19 berichten möchte. Nach zwei Monaten wird der gesellschaftliche Konsens bröckelig. Ist das die gesellschaftliche Halbwertszeit in unserer Mediengesellschaft?

14.5.   Die erste Welle flacht ab und die Firma erlaubt auf freiwilliger Basis einen ersten Start von Büroarbeit mit abgesprochener 30% Anwesenheit bei strikten Regeln für Abstand, Hygiene. Die ersten Gespräche mit den Kollegen werden von allen als Befreiung empfunden . . .

Juli     Die Anzeichen häufen sich: Gerichte werden zur Wahrung der persönlichen Grundrechte eingesetzt, mehr und mehr werden die gelockerten Regeln nicht mehr beachtet, viele wollen nicht mehr mit der Party, dem Urlaub, dem Freizeitspass warten, obwohl das Virus noch unter uns ist. Es ist für die meisten eher eine abstrakte Gefahr, da ja der Pandemieverlauf bisher gut unter Kontrolle gehalten werden konnte. Verschwörungstheorien finden Zulauf, es wird demonstriert für die Abschaffung der inzwischen gelockerten Maßnahmen und das, obwohl um uns herum die erste Welle noch gar nicht zu Ende ist. Oder die zweite schon gestartet?

 

Sind wir als Gesellschaft nicht mehr in der Lage, nach vielen Jahren der persönlichen Freiheiten uns für einen Zeitraum einzuschränken, bis diese Gefahr in Form von Covid19 unter Kontrolle ist? Wie wollen wir dann andere und größere Veränderungen meistern, die vor uns und der ganzen Menschheit liegen?

Die letzten Monate haben mich zweierlei gelehrt:

  • Es gibt Solidarität und spontane Hilfe und Unterstützung.
  • Aber auch eine selbstbezogene Grundeinstellung zum hier und sofort, die wenig Rücksicht auf andere und anderes nimmt.

Der Mensch hat diesen Januskopf . . .

 

Dr. Hartmut Billy