Seit dem Shutdown ist mein Terminkalender sichtlich leerer geworden, keine Ausstellungseröffnungen, keine Pressetermine, keine Künstlergespräche. Und so nimmt auch mein Tagebuch an Umfang ab. Vor Corona drehte sich das Terminkarussell, jetzt öffnet mir die freigewordene geistige und zeitliche Kapazität eine unverstellte Sicht auf meine Arbeit. Ich nehme Dinge wahr, die irgendwann in der Hektik abhandengekommen sind.
In der Werkstatt wartet auf mich eine zwei Meter hohe Skulptur des Kairos. Die Flügel sollen an die Fersen, der Schopf an die Stirn der Figur, der Hinterkopf bleibt frei. Mir wird klar, dass die Skulptur nicht nur ein Abbild der Gestalt aus der griechischen Mythologie ist, sondern dass sie eine verborgene Botschaft enthält. Sie bringt mich auf die Spur der gegenwärtigen Situation. Wir sollen die Krise als Kairos begreifen, als Chance für Mensch und Natur, uns von der zerstörerischen Wachstumsideologie des schneller, höher, weiter zu verabschieden.
Auch der Künstler muss sich hinterfragen, ob der ausschließlich am Kommerz orientierte Kunstbetrieb den durch das Grundgesetz garantierten Freiheiten gerecht wird. Es wäre töricht anzunehmen, dass die Privilegien selbstverständlich und umsonst sind.
Die Rückkehr zu sich selbst, das Bestreben, das Innerste nach außen zu kehren ist für mich ein lohnendes Ziel.
In der Krise Kairos, also den richtigen Moment für eine Korrektur zu erkennen und die Gelegenheit beim Schopfe zu fassen, das ist eine Herausforderung für uns alle. Aber die Flügel an den Fersen mahnen, Kairos wird nicht lange verweilen.
Meine Tagebucheintragungen haben in Umfang in der Krise abgenommen, keineswegs aber an Intensität.
Andreas Kuhnlein