Anja Gild | Lockdown – Knockdown?

März 2020: Da kannte ich dieses Wort noch gar nicht. Lockdown. Heute kann ich es kaum mehr lesen. Lockdown. Als dieses Wort in mein Leben kam, habe ich es nicht verstanden. Psychisch, meine ich. Seminarleiterin, Kulturveranstalterin, Journalistin. Volltreffer. Lockdown – Knockdown. Von 100 auf 0. Oder bei Tempo 100 voll gegen die Wand. Es dauerte Tage, bis ich die möglichen Auswirkungen auf mein Leben und meinen Alltag verstehen konnte.

Panik? Nein. Aber das liegt schlicht daran, dass ich immer schon eine Überlebende war. Schon am Anfang meines Lebens habe ich zweimal überlebt. Das prägt auf Dauer. Also keine Panik, aber es entstanden Reflexe. Reflexartiges Handeln. Vielleicht die kleine Schwester der Panik.

Reflex 1: Ich muss irgendwas verdienen. Putzen in der Brauerei in Valley. Da, wo ich vorher die Kulturveranstaltungen organisiert habe. Mittlerweile kenne ich jede Ritze im Boden und an den Wänden der Brauerei. Mein erster Strohhalm zum Festhalten.

Reflex 2: Den Steuerberater anrufen und alle Vorauszahlungen stoppen. Hat geklappt.

Reflex 3: Die Soforthilfe beantragen. Hat auch geklappt. Auch wenn ich sie wahrscheinlich zurückzahlen muss. Als Selbständige kann ich kaum Betriebsausgaben nachweisen.

Reflex 4: Meine eigentlich eingeplanten Seminare und damit meine Auftraggeber kontaktieren und fragen, was jetzt passiert. Erstmal keine Antwort. Vorbereitet war niemand.

Reflex 5: Aktionismus für eine sichere Zukunft. Weiterbildung? Umschulung? Selbstversorger werden? Einfach mit weniger Geld auskommen? Alles Gedanken, die wie Tornados durch den Kopf wirbelten. Klare Gedanken für eine sichere Zukunft, für meine Kinder, für mich – das war das einzige, was nicht so recht klappen wollte. Was bis heute nicht so recht klappen will. Das erste finanzielle Überleben war zwar gesichert. Aber der Gedanke, dass sich mit einem Schlag alles ändern sollte und es AUCH NOCH SO BLEIBEN SOLL – dieser Gedanke fällt mir bis heute schwer.

Und aus blindem Aktionismus entsteht bisweilen Lähmung. Die innere Weigerung, dieser Figur „Corona“ mit ihren kleinen tausend Mini-Füßchen mit Mini-Saugnäpfchen (so ist die beinahe comicartige Darstellung des Virus in den Medien) und diesem euphemistischen Unwort „Lockdown“, direkt ins Gesicht zu blicken und fordernd die Frage zu stellen: Wer von uns führt den letzten Schlag aus – Ihr oder ich? Lockdown – Knockdown?

Drei Monate später: Der Steuerberater schickte es mir schwarz auf weiß per Post ins Haus: April bis Juni 2020 waren es 80 Prozent weniger Einnahmen als ein Jahr zuvor. Nicht überraschend. Aber überraschend, dass es auch mit weniger geht. Und es geht mit weniger. Das war nicht mein Ziel, meine Absicht. Aber langsam reift in mir der Gedanken, dass es andere wesentlich härter getroffen hat. Denn obwohl ich zur Gruppe der Corona-Verliererinnen gehöre, habe Arbeit. Ich nahm und nehme jeden Auftrag an, und sei er noch so gering bezahlt. Ich bin bereits in den ersten vier Wochen auf den Zug der Virtualisierung aufgesprungen und habe fieberhaft meine Seminare zu virtuellen Seminaren umgebaut. Stundenlange Arbeit – selbstverständlich nicht bezahlt. Und ich konnte die ersten Seminare erfolgreich halten. Ich nahm auch Aufträge an, denen ich mich gar nicht gewachsen fühlte – Themen, die neu waren, in die ich mich einarbeiten musste. Egal, Hauptsache Arbeit. Wird schon klappen! Und es klappte. Aber ich gehe weiterhin putzen. Und wieder einmal habe ich das Gefühl, überlebt zu haben.

Um keinen Preis ein Opfer sein: Der Preis für diese neue Art des Lebens ist hoch. Nichts ist mehr Routine, so vieles ist neu. Die Art der Menschen miteinander umzugehen. Die virtuelle, berührungslose Welt der Meetings, Zooms, Teams. Die neue Art der Kommunikation. Nichts ist mehr Routine. Das Leben ist anstrengend geworden. Wird mir die Puste im Dauerlauf des Lockdowns ausgehen? Ich glaube nicht, denn ich hatte schon vor vielen Jahren gelernt zu überleben. Eine der besten Überlebensstrategien war und ist das Finden der Antwort auf ein Frage: Warum, verdammt nochmal, muss ich DAS jetzt erleben? Wir alle sind Opfer von Corona. Oft sind wir Opfer von völlig unerwarteten Schicksalsschlägen. COVID-19 ist ein Schicksalsschlag. Ich fühlte mich im ersten Moment als Opfer. Aber das hat nichts mit überleben zu tun. Wer sich als Opfer fühlt und im Opfersein hängen bleibt, wird auf die Frage des „Warum“ keine Antwort finden. Ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen – auch in einer so ungewollten Situation wie dem Lockdown. Denn nur so fühle ich mich als „Frau der Lage“. Corona und Lockdown – es fällt mir immer noch schwer, Euch ins Gesicht zu blicken, aber der letzte Schlag wird, glaube ich, nicht Eurer sein.

 

Ein Wimpernschlag in der Geschichte

Lockdown
als dieses wort ungefragt
mein leben zum stillstand bringen wollte
ging ich zum ufer der mangfall
und sagte in ihre strömung hinein
erzähl mir was über diesen moment der geschichte.

 

Aber sie achtete gar nicht auf meine frage
sondern murmelte uralte geschichten
aus vergangenen zeiten.
ich stand und horchte zu
und merkte, dass das wasser des flusses
mit jeder geschichte
einen buchstaben dieses wortes mit sich nahm

 

Lockdown
ockdown
ckdown
kdown
down
own
wn
n

bis nichts mehr in ihrem ewigen fließen davon zu sehen war
Lockdown – du Wimpernschlag in der Geschichte – adieu

 
Anja Gild