Unvergesslich wird mir das Gefühl der Sorge um nahestehende Menschen bleiben, die während des Lockdown alleine zurecht kommen mussten, allen voran um meine Mutter. Mit 86 Jahren lebt sie in ihrem Haus zwei Autostunden entfernt. Wie würde sie die Kontaktsperre, das Social Distancing, aushalten? Der tägliche kleine Einkauf wird zwar materiell durch die Nachbarschaft erledigt. Aus bleiben aber die Gespräche an Theke und Kasse. Aus bleiben die vielen Zufallsbegegnungen des Alltags: kein Therapiebesuch, kein Haarschnitt, kaum ein Spaziergang, kein Friedhofsbesuch, kein Kirchgang.
Wir, ihre Söhne, tun als erstes das, was uns Gesellschaft und Beruf vorleben: digitalisieren. Whatsapp und Skype werden eingerichtet und lange erklärt; nur teilweise mit Erfolg. Der 87. Geburtstag findet unter Einhaltung größtmöglicher Distanz im Garten statt, alle Enkelkinder werden auf Abstand eingeschworen. Natürlich wird täglich telefoniert und der an Ereignissen sehr spärliche Alltag nach Abwechslung abgefragt: Was kochst Du Dir heute, ist das Wetter auch so schön?
Irgendwann merke ich: Nicht sie braucht mich, sondern ich sie. Nicht sie braucht meine Abwechslung und Fürsorge, sondern ich ihre Beständigkeit und Ruhe. Nicht ich habe in meinem Leben gelernt, mit schweren Krisen umzugehen. Sie aber sehr wohl. Jahrgang 1933, als 12-jährige Krieg und Vertreibung erleben müssen, viel Leid und Elend gesehen, früh ihre Mutter verloren und allzu jung Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen müssen. Völliger und mittelloser Neuanfang in der Fremde. Dann ihr erstes Kind verloren. Immer wieder aufstehen, sich nicht hängen lassen, Lebensmut schöpfen, für andere da sein.
Als der Mai wieder die ersten richtigen Besuche ermöglicht, erlebe ich meine Mutter gottlob gesund aber auch gefasst, mit gelassener Ernsthaftigkeit und großer hygienischer Sorgfalt. Täglich notiert sie noch heute die Zahl der Neuinfektionen ihrer Stadt in einer selbstgefertigten Tabelle. Sie legt größtmögliche Sorgfalt in Händewaschen und in das Anlegen des Mund-Nasenschutzes, letzteres ein kompliziertes Entwirren von Bändern und Hörgeräten. Vor allem riskiert sie kein Ansteckungsrisiko, auch während der Lockerungen.
Einmal sagt sie: „Ach, um meinetwillen ist es gar nicht. Wir müssen nur alle mithelfen, damit wir auch diese Krise schaffen.“
Dr. Wolfgang Foit
Geschäftsführer des Kath. Bildungswerk Miesbach e.V.