MDW | Als Wissenschaftler in der Krise

Die Krise als Chance?

Die Krise als Chance sehen – mehr als ein frommer Wunsch? Tatsächlich konnte ich im Bereich der Wissenschaft in den vergangenen Wochen interessante neue Erfahrungen machen. Selbst in weiten Teilen innovativer, technikaffiner Branchen wurde es noch vor wenigen Monaten nicht für möglich gehalten, „wichtige Meetings“ online abzuhalten oder den größten Teil der Arbeit von zuhause zu erledigen. Plötzlich musste es gehen – und es ging. Innovationen müssen anscheinend durchs Schicksal „verordnet“ werden. Die Corona-Krise hat uns gezwungen, Alternativen zum Gewohnten anzudenken und auszuprobieren:

Videokonferenzen statt Meetings (in meinem Fall mit vielen Reisen aus dem Oberland nach Berlin) – das spart Reisezeit und Reisekosten. Natürlich ersetzen Zoom-Meetings nicht komplett die persönlichen Begegnungen und Gespräche beim Kaffee (die wird es in Zukunft bestimmt wieder mal geben), online ist es teilweise aber auch effizienter als bei Gesprächsrunden an einem realen Tisch: Wortmeldungen werden der Reihe nach abgearbeitet, und nicht jeder muss zu jedem Punkt etwas sagen.

Home Office mit freierer Zeiteinteilung als im Büro – hier war ich selbst sehr skeptisch, ob man Kollegen und Mitarbeiter „erreicht“. Aber es funktioniert. Man spart Zeit und Nerven ohne die Pendelei. Etwas unklar bleibt, was man mit der gewonnenen Zeit (ohne Pendeln) anfängt. Entschleunigung.

Digitaler Dialog in der Krise

Wissenschaftskommunikation ist meine Haupttätigkeit. Zur Diskussion von Wissenschaft und Technik erscheinen mir Präsenz-Formate, ohne technische Vermittlung, besonders geeignet. Mit der Veranstaltungsreihe „acatech am Dienstag“ führt die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) regelmäßig solche Diskussionen. Eingeladen sind Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, weitere gesellschaftliche Gruppen und Medien sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger, mit Expertinnen und Experten ins Gespräch zu kommen. Thematisiert werden aktuelle und visionäre, kontroverse und relevante Technikthemen. „acatech am Dienstag“ findet seit 2016 monatlich im acatech Forum am Münchener Karolinenplatz statt und seit 2018 auch in allen bayerischen Regierungsbezirken sowie außerhalb Bayerns.

Den Gesprächspartnern in die Augen sehen, verschiedene Perspektiven entwickeln und gegeneinander stellen – das geht in einem realen Raum. Ab März 2020 stellte sich auch hier die Frage: Wie weitermachen, wenn Präsenzveranstaltungen vorerst nicht möglich sind? Dialog ist ein wichtiges Anliegen der Technikkommunikation. Es gibt methodische und technische Gründe, die eine direkte Übertragung dieses Dialogs ins Digitale verhindern. Die persönliche Begegnung zwischen Experten und Interessierten, die „acatech am Dienstag“ zu einem einzigartigen Forum macht, kann durch Digitalisierung nicht direkt ersetzt, sondern eher ergänzt oder erweitert werden. Insofern erscheint eine direkte „Abbildung“ eines Podiums in digitaler Form (z.B. Webcast, live chat) nicht sinnvoll.

Wir hatten uns zunächst auf Podcasts verlegt: ca. 20minütige Audioformate, in denen Experten ihre Sichtweisen zu Themen wie „Digitaler Journalismus“ und „Krisenkommunikation“ darstellten – jeweils mit aktuellem Corona-Bezug. Als Rückmelde- und Rückfragemöglichkeit wurde für die Zuhörer ein E-Mail-Kanal eingerichtet.

Wir haben den Dialog mit den Teilnehmern dann aber doch vermisst, und haben uns ab Mai 2020 der Herausforderung gestellt, Zoom-Veranstaltungen anzubieten – die Nachfrage nach (nun digitalen) Dialogformaten zu aktuellen und kontroversen Technikthemen war groß. In der Dramaturgie ähnlich realer Dialogveranstaltungen, also mit zwei oder drei Impulsvorträgen zu einem aktuellen Thema, auf deren Basis diskutiert wurde. Die Teilnehmer schätzen die Information und die (wenn auch eingeschränkte) Möglichkeit der Diskussion. Nolens volens haben wir uns ein neues, ortsunabhängiges Format erschlossen, bei dem die Reichweite (geografisch und quantitativ) unbegrenzt ist gegenüber Präsenzveranstaltungen. Wir werden diese Möglichkeiten in Zukunft weiter nutzen, auch in Kombination mit Präsenzveranstaltungen, wenn diese wieder möglich sein werden.

Die Neubesinnung hat uns auch dazu angeregt, grundsätzlich über Kommunikation und Dialogformate nachzudenken: Wozu das Ganze, was ist wichtig, was ist veränderbar? Was ist Dialog? Welches sind die Ziele der Kommunikation? Und was lässt sich vielleicht doch digital erreichen? Ich wollte eigentlich zunächst etwas entwickeln wie einen „Salon“; ein Salon ohne räumliche Nähe, auf jeden Fall ohne digitale Vermittlung; vielleicht eine Art Briefwechsel, asynchrone Kommunikation, Zeit für Gedankenaustausch, Gedankenblasen… Leider bin ich da noch zu keinem Ergebnis gekommen, und auch meinen Dialogkollegen fehlt bis heute die Fantasie. Es herrscht eher Uniformität statt Kreativität im digitalen Dialogbereich.

Dabei sollten wir jetzt diese Phase, die wohl noch länger dauert, als Experimentalraum für neue Arten des Dialogs nutzen, z.B.

  • Kombination realer und virtueller Formate. Mehr Dynamik als immer nur Köpfe auf dem Zoom-Bildschirm. Vielleicht kommen zumindest Moderator und Podiumsteilnehmer in einem realen Raum zusammen, in dem man sich die Bälle besser hin- und herwerfen kann. Die Nutzung der Breakout-Räume in Zoom, etwa im Sinne von Murmelgruppen, liegt auf der Hand.
  • Kombination synchroner und asynchroner Elemente. Vorbereitendes Material (Publikationen, oder ein vorab-Interview und eine anschließende Dokumentation, bis hin zur Aufzeichnung der gesamten Veranstaltung, können die Reichweite auch zeitlich ausdehnen.
  • Intelligente Nutzung der Dialogkanäle: Zoom-Wortmeldungen, Chats, Kommentierungen sind hier die Instrumente.

Die Krise als Krise

Aber was tut sich in der Wissenschaft selbst? Seit Jahren höre ich Erfolgsmeldungen der Life Sciences und Biotechnologie: Genome Editing, Keimbahntherapie, Biologisierung… Nun legt ein Virus die Welt lahm. Und die Wissenschaft bietet bis heute keinen Schnelltest (Mitte August 2020 muss man Tage auf das Testergebnis warten). Keine Therapie. Keine Impfung. Wir müssen im 21. Jahrhundert mit dem Virus umgehen wie im Mittelalter mit der Pest, mit Masken, Abstand, Quarantäne. Auf alten Illustrationen sieht man vermummte Pestdoktoren mit schnabelförmigen Masken. Die Masken waren gefüllt mit Duftstoffen und sollten den Träger vor der schlechten Luft schützen. Solche Illustrationen finden sich auch in der Ausstellung „Pharmazie“ des Deutschen Museums in München, im Bereich Infektionskrankheiten. Ich hatte das immer so wahrgenommen: „Schaut her, wie hilflos die Menschen im Mittelalter waren, heute haben wir dank Pharmaindustrie Medikamente.“ Aber da hatte ich wohl zu viel erwartet von den Life Sciences. Wir sind nicht viel weitergekommen. Wigald Boning bemerkt dazu: „Das ist das Spannende an dieser Zeit: Dass grundsätzlich nie jemand Bescheid weiß. Alle tappen wir im Dunkeln, manche hauen dabei mit dem großen Zeh gegen das Tischbein, die anderen nicht.“

Unser wissenschaftliches Wissen zu Corona ist wirklich dünn. Nur ein Beispiel dazu, auf welchem Niveau wir uns hier bewegen: Mit der Überschrift „Masken reduzieren Infektionsrisiko deutlich“ berichtete im Mai 2020 der Spiegel über eine (bis dahin unveröffentlichte) Studie an Hamstern der Universität Hongkong: „Die Forscher um den Coronavirus-Experten Kwok-Yung Yuen von der Universität Hongkong haben das Masketragen bei den Hamstern simuliert, indem sie Stoff von einfachen OP-Masken zwischen zwei Käfige hängten.“ Man könnte darüber schmunzeln. Welche Ergebnisse auch immer bei dieser oft genannten Studie herausgekommen sind – sie sind wohl wertlos, wie der „Spiegel“ in seinem Bericht andeutet: „Am Experiment ohne Maske waren 15 gesunde Hamster beteiligt, an den anderen beiden zwölf. Die Werte sind daher mit Unsicherheiten behaftet.“ Der Bayerische Rundfunk schließt jedoch auf Basis dieser Studie: „Masken können vor Corona-Infektion schützen“. Und das ZDF folgert sogar: „Hamster-Studie weist Wirkung von Masken nach“.

Und überhaupt – die Masken. Die verdecken einen großen Teil des Gesichts. Das ist etwa in Schulen problematisch, weil Lehrer dadurch Mimik nicht erkennen, und Hörgeschädigte können Lippenbewegungen nicht sehen. Es gibt zwar durchsichtige Visiere aus Plexiglas, aber die sind seitlich offen: kein guter Schutz. Masken, die zwar vorne durchsichtig transparent sind und nur seitlich textile durchlässig Öffnungen haben, sind sperrig, teuer und beschlagen mitunter. Wäre es nicht eine schöne Aufgabe für die Materialwissenschaft, für die sog. Behelfs-Mund-Nasen-Masken („Community-Masken“), die man beim Einkaufen, im ÖPNV usw. verwendet, ein transparentes Maskenmaterial zu finden? Vielleicht kommen wir dann auch endlich weg von unangenehmen Fashion-Erfahrungen. In Abwandlung eines Wortes von Karl Lagerfeld könnte man sagen: Wer mit grünblauer OP-Maske zum Einkaufen geht, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Wie lange wird uns Corona in Atem halten? Was kommt danach? Ein Neustart, mit weniger Flugverkehr (der den Virus erst in die Welt brachte), weniger Globalisierung? Oder business as usual? Oder eine Krise 2.0, verursacht durch Corona-Mutationen, weitere Viren oder Bioterrorismus?

 
MDW, 53 Jahre, Wissenschaftler
Stand 23.8.2020