Matthias Striebeck | Die Reinkarnation der Venus von Willendorf

Da stand sie: Die Reinkarnation der Venus von Willendorf, die personifizierte Mütterlichkeit, mein fleischgewordener Wunsch nach Nähe in den Zeiten von Social Distancing. In mir rangen Freud, Jung und die Dämonen der Correctness, ob es irgendeinen zulässigen Weg geben könnte, eine wildfremde Frau auf offener Straße zu bitten, mich in den Arm zu nehmen und eine Weile zu halten… .

Da schnatterte sich von der Seite eine Gans in mein Gesichtsfeld: Eine entfernte Bekannte hatte mich entdeckt und flatterte ihren Ellenbogen zum Gruß in meine Richtung. Die Geruchsexplosion ihrer entblößten Achsel tötete in meiner Amygdala alle Ablenkung in Richtung Venus und schaltete auf Alarm! Corona-Alarm!

Wenn ich mein Gegenüber riechen kann, dann haben mich seine Aerosole bereits erreicht. In einem natürlichen Abwehrreflex reiße auch ich meinen Arm nach oben – und freudig glaubt meine Bekannte, dass auch ich mich der neuen Kontaktaufnahmegepflogenheiten bediene, und lächelt glückselig.

Wir führen den sinnentleerten Corona-Smalltalk, der dieser Tage allen Menschen zu eigen zu sein scheint, und nach ein paar Minuten geht sie weiter. Mit den Augen suche ich nach meiner Venus. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass ich ohne eine Umarmung von ihr verdorren werde wie ein Regenwurm bei Sonnenschein auf Asphalt. Aber sie ist weg.

Seit Wochen nehme ich meine Eltern nicht mehr in den Arm. Bei meinen Kindern halte ich das nicht durch, bin aber wesentlich zurückhaltender als früher. Ich langweile mich zu Tode bei diversen Videokonferenzen und belüge meine Mitmenschen, indem ich wie alle anderen auch behaupte, dass das doch fast wie in echt sei und unter Umweltschutzgesichtspunkten sogar besser: Man fahre nicht mehr so viel in der Gegend rum – und überhaupt!

Mir kommen die Tränen. Überhaupt bin ich dauerunglücklich. Noch will ich nicht sagen: depressiv. Ich glaube nicht, dass es das trifft. Es ist eher eine Art Abschiedsschmerz. Ich sitze in einem Zug und winke. Ich entferne mich von allem, was ich mag. Immer kleiner wird all das Liebens- und Lebenswerte, während ich mich auf eine Zukunft zubewege, die ich nicht haben will.

Ich verstehe sie gut, die jungen Leute, die in wilden Exzessen versuchen einzufordern oder nachzuholen, was ihnen Robert Kochs Blick auf die Welt seit Monaten vorenthält.

Meine studierenden Kinder kennen ihre Kommiliton*innen nicht. Und auch ihre Dozent*innen sind nur ruckelige Bilder, die sich am Ende einer unbeholfenen, nasenhaardominierten Frontalveranstaltung einfach abschalten. Keine Currywurst im Atzinger; kein Bier am Chinesischen Turm; kein Austausch; schwarzer Bildschirm. Ich habe am zweiten Tag meines Studiums meine spätere Frau kennengelernt und der akademische Mittelbau mit seinen engen Studierzimmern war mir jahrelang Heimat.

Jahre meiner Berufstätigkeit als Seelsorger habe ich investiert, um emotionale Dichte von wirklicher Nähe unterscheidbar zu machen. Und plötzlich soll ich einem Sterbenden nicht mehr die Hand halten dürfen? Soll ich einer Mutter, der ich gerade die Nachricht überbracht habe, das ihr Kind nicht mehr lebt, nicht mehr im Leben halten dürfen?

Mein Beruf ist Sinnstiftung und Gemeinschaft. Gemeinschaft ist Nähe, Zärtlichkeit, Zugewandtheit – Distanzunterschreitung! Ich lebe nicht vom Brot allein. Meine Lebens-Mittel sind Brot und Wein aus Fleisch und Blut!

Ich schließe die Augen.

Venus kommt über die Straße. Sie blickt mir durch die Augen auf den Grund meiner Seele. Sie versteht. Sie nimmt mich in ihre Arme und wiegt mich ganz leicht. Sie haucht mir ins Ohr: Alles wird gut! Ein Schluchzen durchschauert meine Körper und ich heule weil ich ihr glauben will und weiß, dass sie lügt.

 

Matthias Striebeck