Josef Fuchs | Was heißt hier systemrelevant / Litanei der Corona-Offenbarung

Was heißt hier systemrelevant?

Während und nach der Bankenkrise von 2008 / 2009 wurden in Deutschland Banken mit Milliarden von Euros und staatlichen Beteiligungen gestützt und vor dem Bankrott bewahrt. Begründet wurde die Rettung der Banken von der damaligen Bundesregierung damit, dass sie systemrelevant seien. Mit System war wahrscheinlich das Finanzwirtschaftssystem gemeint. Natürlich kann man nach einer Krise immer klüger sein als mittendrin, wenn unverzüglicher Handlungsgbedarf besteht. Dennoch ist nicht nachvollziehbar, dass nach über zehn wirtschaftlich erfolgreichen Jahren einige Banken ums Überleben kämpfen und der Staat zumindest bei einer Bank noch Anteile hält. Es stellt sich die Frage, warum so wenig Lehren und Konsequenzen aus Krisen gezogen werden?

Momentan, im Jahr 2020, hält das Corona-Virus die Welt in Atem. Die Pandemie verändert das gesellschaftliche Zusammenleben und bringt global große Bereiche der Wirtschaft zum Stillstand. Zwangsläufig fühlt man sich an den Begriff „Unterbrechung“ vom Theologen J. B. Metz erinnert, auch wenn er ihn in einem anderen Zusammenhang benutzt hat. Auch in der Coronakrise wird von Systemrelevanz gesprochen. Berufe und ganze Branchen, insbesondere die die Gesundheits- und Daseinsvorsorge betreffen, werden als systemrelevant eingestuft. Doch um welches System handelt es sich hier? Wirtschaftssystem – Regierungssystem – Gesellschaftssystem – Gesundheitssystem?

Was unterscheidet die Bankenkrise und die Corona-Krise von der Klimakrise, die ja nicht tatsächlich, sondern nur aus den Medien verschwunden ist? Dieser Frage soll in diesem Zusammenhang nicht weiter nachgegangen werden, muss aber im Folgenden im Hinterkopf behalten werden. In der Anfangsphase der Corona-Krise ist eine Relevanzverschiebung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu beobachten, die sich in einer Geschwindigkeit vollzog, dass hier eher von einem Relevanz-Erdrutsch gesprochen werden muss. Haben nicht noch kurz vor der Corona-Krise manche Institutionen und Organisationen die Reduzierung von Intensiv­stationen, ja sogar die Schließungen von ganzen Krankenhäusern gefordert, allein aus Kosten- und Wettbewerbsgründen? Haben nicht manche Politiker und Ökonomen sich jegliche Einmischung des Staates in die Wirtschaft verbeten mit der Begründung, der Markt kann für die Menschen besser sorgen als der Staat? Jegliche Regulierungen des Marktes wurden oft als „sozialistische Planwirtschaft“ verunglimpft. Die gleichen Leute und Organisationen beschweren sich aber nicht über staatliche Finanzhilfen und Subventionen. In Zeiten von Corona spricht man dann nicht von „sozialistischer Planwirtschaft“, sondern von „Kriegs- oder Notfallwirtschaft“. Müssen Hartz IV–Hilfeempfänger ihre finanzielle Situation bis ins Detail offenlegen, um einem etwaigen Missbrauch des Sozialhilfesystems vorzubeugen, werden Wirtschaftshilfen manchmal sogar nahezu bedingungslos nach dem Gießkannensystem verteilt oder zumindest versprochen? Wie soll von heute auf morgen Solidarität gelebt werden, wenn sonst Wettbewerb und Konkurrenzkampf als „Normalität“ des Lebens dargestellt werden? Ist es nicht fragwürdig, dass Mitarbeiter in Branchen, denen man sein Geld anvertraut um ein zigfaches mehr verdienen können, als Mitarbeiter in Branchen wie z.B. Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Pflegeheimen, denen man einen Menschen, jung oder alt, anvertraut? Wurde nicht erst vor kurzem das Tempolimit auf Autobahnen von vielen als unzumutbaren Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger betrachtet? Ähnlich wie die Ausgangsbeschränkungen, die ein wesentlich größerer Eingriff ins Privatleben bedeuten, könnte das Tempolimit Leben retten, die Zahl der Unfälle reduzieren und den Ausstoß von Kohlendioxid verringern. Wer kann dies nachvollziehen? Die Liste an Beispielen ließe sich beliebig fortführen.

Man hat den Eindruck, dass es sich bei der Corona-Krise um einen unfreiwilligen globalen Freilandversuch handelt. Unterschiedliche Wirtschafts- und Regierungssysteme versuchen in einem Systemwettbewerb ihre Überlegenheit darzustellen. Dies geschieht auf Grund des Föderalismus in Deutschland unter den Bundesländern, in der EU unter den Nationalstaaten und weltweit besonders unter den Großmächten. Eines sollte klar gemacht werden, jeder Corona-Tote, egal wo, ist einer zu viel. Dennoch sollte es erlaubt sein, nach der Krise kritisch, unabhängig und wissenschaftlich zu evaluieren, welches Wirtschafts- und Regierungssystem am besten, d.h. zum Wohle der Menschen, zurecht gekommen ist. Zu oft wird den Demokratien vorgehalten, nicht effizient und konsequent in Krisenzeiten handeln zu können. Viele glauben dann, dass nur ein „starker Mann“ sie retten kann.

Ohne Zweifel, es gibt keine perfekte und fehlerfreie Wirtschafts- und Regierungsform. Die Frage stellt sich nur, welche Regierungsform ist am fehlerfreundlichsten und am lernfähigsten. Mag Deutschland momentan im weltweiten Vergleich gut dastehen, so deckt die Corona-Krise doch einige Mängel im Gesundheitswesen auf. Die Forschung im Pharma- und Medizinbereich sowie das Pflegesystem steht zu sehr unter dem Diktat des Wettbewerbs und somit unter einem enormen Kostendruck. Die Patienten und das Pflegepersonal sind die Leidtragenden. Wertschätzendes Klatschen mag vielen Betroffenen gut tun, wird aber nicht reichen. Es stellt sich nicht so sehr die Frage, ob der Staat oder die Wirtschaft besser oder effizienter für die Menschen sorgen kann, sondern wo stecken welche Interessen dahinter? Welche Interessenskonflikte sind zwischen Anteilseigner einer privaten Klinik, den Patienten und dem Pflegepersonal vorprogrammiert? In der Forschung, in der Daseinsvorsorge und im Bildungswesen sehen die Interessenskonflikte oft ähnlich aus.

Im Zusammenhang mit der Corona-Krise soll noch einmal ein Blick auf die EU geworfen werden. Betrachtet man nur die letzten fünfzehn Jahre so hat man den Eindruck, die EU befindet sich nur noch im Krisenmodus: Bankenkrise, Euro-Krise, sog. „Flüchtlingskrise“, Klimawandel, Brexit und jetzt noch die Corona-Krise. Man muss sich ernsthaft fragen, was noch alles passieren muss, dass die EU aufwacht. Trotz mantrahaften Appellen zur Solidarität denkt auch in der Corona-Krise jeder Nationalstaat zuerst an sich. Grenzen werden einseitig ohne Abstimmung geschlossen. Anfang März 2020 verhängt Deutschland einen Exportstopp für Atemschutzmasken und Frankreich hat alle Vorräte beschlagnahmt. Der Streit um Euro-Bonds ist wieder entflammt. Das schlimmste jedoch ist, dass sich einige Länder ganz oder teilweise von demokratischen Prinzipien und Spielregeln verabschiedet haben. Es ist Zeit, wirklich Konsequenzen zu ziehen. Entweder die EU findet die Kraft, sich von Innen her zu reformieren oder sich ganz neu zu erfinden, wie es der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog in seinem Buch von 2014 formulierte.

Es ist nochmals zu betonen, dass jeder Coronatote zu viel ist. Besonders im Pflegebereich leisten Menschen noch mehr als vor der Corona-Krise. Auch die vielfältigen Beispiele gelebter Solidarität machen Mut. In jeder Krise steckt die Chance, daraus zu lernen. Dies gelingt aber nur, wenn die Schwächen, aber auch Stärken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft offengelegt werden. Es bedarf einer neuen Beurteilungsgrundlage, die darauf beruht, ob etwas gemeinwohlrelevant oder noch besser weltgemeinwohlrelevant ist. Politik und Wirtschaft braucht eine Relevanzverschiebung hin zu einer gemeinwohlorientierten sozial – ökologischen Marktwirtschaft und zu mehr Demokratie in der EU und weltweit.

Die Rolle der Kirchen könnte, oder besser gesagt, müsste sein, zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und NGOs nicht nur ihre Stimmen zu erheben, sondern wahrnehmbar für eine sozial-ökologische Transformation zu kämpfen. „Alles ist mit allem verbunden“ schreibt Papst Franziskus in seiner sozial-ökologischen Enzyklika „Laudato si“. Dies gilt auch für die unterschiedlichen Krisen.

 

Litanei der Corona-Offenbarung

Gnadenlos offenbart die Corona-Pandemie die Schwächen:

  • in unserem Gesundheitswesen
  • in unserer Daseinsvorsorge
  • in der Finanzwirtschaft auch Jahre nach der Finanzkrise von 2008 / 2009
  • in unserem Konsumverhalten
  • in der Digitalisierung
  • im Datenschutz
  • in den nationalen und internationalen Lieferketten
  • im Umgang von Menschen in der Fleischindustrie
  • im Umgang von Menschen in der Landwirtschaft
  • im Umgang von Menschen in der Lebensmittelproduktion
  • in der Bezahlung von Menschen in sog. systemrelevanten Berufen
  • im Ruf nach finanziellen Unterstützungen
  • in der Europäischen Union
  • in der globalen Weltgemeinschaft
  • in der internationalen Forschung und Pharmaindustrie

Sie lässt uns auch vieles andere ent-decken:

  • unvorstellbare Handlungsspielräume und Möglichkeiten in Politik und Gesellschaft
  • gelebte Solidarität
  • Hamsterkäufe und andere unsolidarische Verhaltensweisen
  • Primat der Politik
  • handlungsfähige Demokratien
  • unfähige Autokratien
  • Grenzen der Freiheit
  • begründete und unbegründete Ängste und deren Missbrauch
  • Änderungen beim eigenen Lebensstil
  • Verbundenheit von Krisen zu einer „multiplen Krise“
  • Verschiebung von Wichtigkeit in unserem Leben
  • Demut und Bescheidenheit

Sie legt alte und neue Fragen offen:

  • Was hat die Schwächen, die sich in der Corona-Krise geoffenbart haben, so zugedeckt, dass sie nicht sichtbar waren?
  • Wer hat die Schwächen verdeckt?
  • Wollten oder konnten wir die Schwächen nicht sehen?
  • Werden wir die Corona-Krise auch als Chance betrachten und daraus lernen?
  • Was werden wir daraus lernen?
  • Was muss getan werden, dass etwas getan wird?

Dr. Josef Fuchs